Rotkäppchen und der böse Wolf
Spur ihres Ausbruchs von Mrs Perennas Gesicht – es war jetzt nur das geduldige, etwas abgehetzte Gesicht einer Pensionsinhaberin, deren Gäste dauernd für kleinen oder großen Verdruss sorgen.
»Aber nein, Mrs O’Rourke«, erwiderte sie. »Wir sprachen gerade über Mr Meadowes. Nicht einmal die Polizei…«
»Ach, die Polizei!«, unterbrach Mrs O’Rourke verächtlich. »Allenfalls brummt sie einem Autofahrer eine Buße auf oder ist hinter den armen Teufeln her, die ihre Hundesteuer nicht rechtzeitig zahlen.«
»Aber was halten Sie denn von der Sache, Mrs O’Rourke?«, fragte Tuppence.
»Sie haben doch wohl auch gehört, was man sich erzählt?«
»Dass Mr Meadowes ein Faschist und ein feindlicher Agent sein soll – ja, das habe ich allerdings gehört«, antwortete Tuppence kalt.
»Etwas Wahres könnte doch dran sein«, meinte Mrs O’Rourke nachdenklich. »Der Mann hatte etwas an sich – ich hab ihm von Anfang an nicht recht getraut. Wissen Sie, ich habe ihn beobachtet…« Sie lächelte Tuppence jetzt geradewegs ins Gesicht, und wie stets war ihr Lächeln Furcht erregend – das Grinsen eines Menschenfressers. »Er sah gar nicht aus wie jemand, der sich zur Ruhe gesetzt und nichts Rechtes mehr zu tun hat. Wenn ich es mir überlege… ja, er wird wohl zu einem bestimmten Zweck hergekommen sein. Was meinen Sie dazu, Mrs Perenna?«
»Ich weiß gar nichts«, seufzte Mrs Perenna. »Mir ist die ganze Geschichte sehr zuwider. All das Gerede!«
»Ach, das Gerede. Kümmern Sie sich nicht darum. Die Leute sind ja glücklich, wenn sie etwas zu schwatzen haben. Schließlich werden sie noch behaupten, der gute Mr Meadowes hätte uns alle um ein Haar in unseren Betten in die Luft gesprengt.«
»Aber Ihre Meinung haben Sie uns noch nicht verraten«, sagte Tuppence.
Wieder lächelte Mrs O’Rourke ihr breites Menschenfresserlächeln.
»Was ich denke? Der Mann wird schon irgendwo in Sicherheit sein – versorgt und gut aufgehoben.«
Sie spricht, als ob sie Bescheid wüsste, dachte Tuppence, aber sie täuscht sich, Gott sei Dank…
Sie machte sich auf den Weg in ihr Zimmer, um sich zum Abendessen anzuziehen. Gerade lief Betty aus dem Schlafzimmer der Cayleys, spitzbübisch und beseligt lächelnd.
»Was hast du wieder angestellt, kleiner Schelm?«, fragte Tuppence.
Betty lachte glücklich: »Hoppoppopp, tab, tab, tab, Pferdsen…«
»Hopp, hopp, hopp, Pferdchen, lauf Galopp«, sang Tuppence. Sie schwang Betty hoch über ihren Kopf. »Trab, trab, trab – da wirft’s den Reiter ab!« Sie kugelte die Kleine über den Fußboden.
In diesem Augenblick erschien Mrs Sprot mit Bettys Hut und Mäntelchen.
»Verstecken?«, fragte Betty hoffnungsvoll. »Such-such?«
»Nein, jetzt können wir nicht Versteck spielen«, sagte Mrs Sprot.
Tuppence ging in ihr Zimmer und stülpte sich verdrossen den Hut auf den Kopf – Patricia Blenkensop wusste, was sich für eine Dame gehört.
Hallo! In ihrem Hutschrank waren die Hüte anders geordnet als gestern. Hatte man wieder ihr Zimmer durchschnüffelt? In Gottes Namen. Sie war eine einwandfreie Mrs Blenkensop, niemand konnte einen Gegenbeweis finden.
Penelope Plaines Brief warf sie recht sichtbar auf den Toilettentisch, dann ging sie die Treppe hinab und aus dem Haus. Es war zehn Uhr, als sie vor die Gartenpforte trat. Reichlich Zeit. Sie blickte zum Himmel nach dem Wetter, und dabei trat sie in eine dunkle Pfütze, scheinbar ohne es zu beachten. Ihr Puls schlug wild. Triumph, Triumph, erklang es in ihrem Herzen. Jetzt kriegen wir sie!
Yarrow war ein kleiner Ort auf dem Lande; das Dorf lag abseits vom Bahnhof.
Vor dem Bahnhof wartete ein Auto; ein gut aussehender junger Mann saß am Steuer. Mit linkischer Bewegung berührte er seine verschossene Mütze.
Misstrauisch stieß Tuppence mit dem Fuß an den Gummireifen.
»Der hat ja gar keine Luft mehr…«
»Wir fahren nicht weit, Madam.«
Sie fuhren los, nicht in Richtung des Dorfes, sondern zu den Dünen. Der Wagen kroch den Hügel hinauf und schlug dann einen Seitenpfad ein, der jählings in eine tiefe Schlucht führte. Aus dem Schatten einiger niedriger Bäume löste sich eine Gestalt und kam auf sie zu.
Der Wagen hielt an, Tuppence stieg aus und ging Tony Marsdon entgegen.
»Beresford geht’s gut«, sagte er schnell. »Wir haben ihn gestern aufgestöbert. Jetzt ist er noch gefangen – die Gegenseite hat ihn erwischt, und aus guten Gründen muss er noch zwölf Stunden bleiben, wo er ist. Es wird nämlich an einem
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