Rotkäppchens Rache
die anfängliche Panik erst einmal gelegt hatte, kümmerten sich die Schwestern so ruhig und effizient um die Folgen des Angriffs, wie Talia es erwartet hatte. Wenn man einen Monat lang hier arbeitete und dabei mit Krisen jeder Art fertigwerden musste, lernte man, seine augenblicklichen Gefühle beiseitezuschieben, um die Verletzten vor sich zu behandeln. Talia wusste noch gut, wie sie diese Lektion zum ersten Mal gelernt hatte, in jener Nacht, als ein Mann den Pfad hochkam, aus dessen Schädel ein Tranchiermesser ragte.
Faziya hatte den Mann in den Tempel geführt, als sähe sie solche Wunden Tag für Tag. Sie wickelte Bandagen um die Klinge und schickte Talia eine der älteren Schwestern holen. Erst später an diesem Tag, nachdem der Mann gestorben und Talia mit Faziya allein war, hatte diese sich den Luxus von Furcht und Kummer gestattet.
Gefühle konnten warten. Für den Augenblick kümmerten sich die Schwestern um die Verletzten, die der Jäger hinterlassen hatte, und gaben ihr Bestes, um die Gäste des Tempels zu beruhigen. Die Leiche des Jägers wurde in den hinteren Teil des Tempels gebracht, wo sie am nächsten Tag entkleidet und verbrannt werden würde, zusammen mit den drei Personen, die er getötet hatte, darunter auch eine der Schwestern.
Talia wusste, dass sie recht hatten. Heute Nacht konnte nichts unternommen werden, nicht, solange die Jäger noch durch die Stadt streiften. Sie gab sich Mühe, Mutter Khardijas Gefasstheit nachzuahmen, als sie in ihr Zimmer zurückging.
Beim Anblick der drei Tempelkatzen vor der Tür zog Talia eine Braue hoch. Als sie näher kam, flitzte eine der Katzen nach drinnen. Talia spähte durch die Vorhänge und sah, wie Danielle ihr den Hals kraulte. »Unsere Wächter sind dein Werk, nehme ich an?«
Danielle flüsterte der Katze etwas zu, die daraufhin den Rücken wölbte und hinausschlenderte, um sich wieder zu ihren Artgenossen zu gesellen. »Die anderen sind auf den Mauern. Wenn sich noch ein Jäger dem Tempel nähert, werden sie es uns wissen lassen.«
Talia zog ihr Schwert, setzte sich mit dem Rücken zur Wand und fing an, die Klinge zu inspizieren. Die Schneide hatte eine Scharte davongetragen, wo sie mit dem Speer des Jägers zusammengeprallt war. Sie nahm einen kleinen Schleifstein aus der Tasche und machte sich an die Arbeit. Ohne aufzublicken sagte sie: »Woher weißt du von der Wilden Jagd?«
Mit schräg gestelltem Kopf horchte Roudette, als ein Hund in der Ferne heulte. »Es war ein Elfenjäger, der meine Großmutter fand. Er schnitt ihr dieses Wolfsfell vom Körper, während ich dabei zusah, versteckt im Schrank.«
Talia drehte das Schwert um und begann, die andere Seite der Klinge zu bearbeiten. »Hat jemals einer gegen sie gekämpft und es überlebt?«
»Gegen einzelne Jäger wie den heute Nacht, ja.« Roudettes Oberlippe zog sich zurück. »Es macht keinen Unterschied; sie werden den Mann, den wir getötet haben, ersetzen. Das tun sie immer. Falls du dich mit dem Gedanken trägst, den Tempel zu verteidigen, dann wärst du besser dran, wenn du dich in dein Schwert stürzt.«
Danielle beugte sich vor. »Wie ersetzen sie ihre gefallenen Gefährten?«
»Die Elfenkirche glaubt, dass der Tod eines Mannes vom Moment seiner Geburt an bestimmt ist - verfügt von Gott persönlich.« Roudette lehnte sich zurück und schloss die Augen. So ruhig wie jetzt hatte Talia sie noch nie erlebt: als hätte das Töten des Jägers ihr ermöglicht, sich wahrhaft zu entspannen. »Die meisten, die von der Klinge eines Jägers getroffen werden, fallen so tot um, wie man es erwarten sollte, aber einige wenige leben weiter und schließen sich der Jagd an. Das sind diejenigen, deren Zeit noch nicht gekommen ist. Sie begleiten die Wilde Jagd, bis sie das Ende der ihnen zugeteilten Tage erreichen.«
»Der Mann, gegen den wir heute Nacht gekämpft haben?«, fragte Schnee.
Roudette lächelte. »Die Kirche würde dir erzählen, dass es Gottes Wille war, dass sein Leben an diesem Tag endete. Wir waren bloß Gottes Werkzeuge.«
Talia würdigte das keiner Antwort.
»Wo sind sie hergekommen?«, wollte Schnee wissen. »In den Geschichten, die ich gehört habe, heißt es, die Wilde Jagd wurde dazu verdammt, für alle Zeiten zu reiten, aber jeder Fluch kann doch gebrochen werden.«
»Dieser nicht«, erklärte Roudette. »Manche sagen, der Anführer der Jagd ist einer der alten Götter, der entmachtet wurde. Andere halten ihn für einen sterblichen König, der einen Elfenfürsten
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