Rotkäppchens Rache
aufgeschrien.«
Roudette grub die Finger in den Umhang, fühlte die Kraft des Wolfes und ließ seine Wut und seinen Hunger über sich hinwegfluten. Sie schloss die Augen und lauschte dem Heulen von der Straße. Das Geräusch endete nie. »Ich dachte, sie wären wegen mir gekommen.«
Einen Monat lang hatte die Wilde Jagd sie verfolgt. Roudette hatte einen aus ihrer Schar getötet und glaubte, dass sie diesen Tod rächen wollten, aber Rachedurst war eine menschliche Regung. Ihr einziges Interesse galt der Beendigung der Jagd, und in jener Nacht waren sie wegen Jaun gekommen. »Sie werden nie müde. Sie machen nie halt und sie werden jeden töten, der zwischen sie und ihre Beute kommt.«
»Aber wie überlebt man dann?«, fragte Danielle.
Roudette fletschte die Zähne. »Sei die Jägerin, nicht die Beute!«
*
Talia fand Mutter Khardija im Garten, wo sie beim Licht des Mondes damit beschäftigt war, zu kleine Blüten aus einer Reihe von Feuerlilien zu pikieren.
»Alles, was wir anpflanzen, dient einem von zwei Zwecken«, sagte sie, als sie Talia bemerkte, »der Nahrung oder der Medizin. Nahrung können wir auch auf dem Markt kaufen, wenn es sein muss, aber Medizin …« Sie drehte sich langsam im Kreis. »Sollte diesem Garten etwas zustoßen, würde es Monate dauern, ihn so wieder anzulegen. Ernten wir alles heute Nacht, auch wenn viele Pflanzen noch zu jung sind, oder lassen wir sie in Ruhe und hoffen, dass ihnen kein Schaden zugefügt wird?«
Talia ging neben einer kleinen Blume mit langen, orangefarbenen Blättern in die Hocke. »Wie viele Leute hast du schon behandelt, weil sie von Ruquqblättern abhängig waren? Wenn man diese Pflanzen unbewacht lässt, wird jede Blume vor Einbruch der Nacht gestohlen sein.« Sie stand wieder auf. »Erntet die Pflanzen, die in den falschen Händen Schaden anrichten würden. Was den Rest anbelangt, so nehmt so viel, dass ihr vier Tage über die Runden kommt. Damit verschafft ihr euch Zeit, um mit den anderen Tempeln Verbindung aufzunehmen, und die können euch an Medizin schicken, was ihr braucht.«
»Eine weise Lösung, Prinzessin.« Mutter Khardijas Lächeln erweckte in Talia den Verdacht, dass sie bereits beschlossen hatte, genau so zu verfahren, wie Talia vorgeschlagen hatte. »Arathea braucht solche Weisheit.«
»Welche Weisheit liegt darin, hier zu warten, um zu sterben?«, entgegnete Talia. »Die Wilde Jagd wird euch umbringen, wenn ihr bleibt.«
Khardija seufzte. »Jenx el-Barhud ist vier Jahre alt. Vor drei Nächten hat er sich bei einem Feuer Verbrennungen zugezogen. Hier können wir mit Salben und Tränken dafür sorgen, dass er schläft, aber bei der geringsten Bewegung platzen die Wunden wieder auf.« Sie drehte sich um und starrte auf die Gartenmauer, als könnte sie durch die Ziegelsteine zu den Menschen dahinter sehen. »In Zimmer drei liegt eine Kha’iida-Frau namens Risha reglos da; ihr Rückgrat ist an zwei Stellen gebrochen. Die Reise hierher hat dazu geführt, dass sie gelähmt ist. Ein erneuter Transport hieße, ihren Tod zu riskieren. Es gibt andere in ähnlicher Verfassung. Willst du, dass ich sie der Jagd überlasse?«
»Du kannst sie nicht alle beschützen!«, wandte Talia ein.
»Mag sein. Es gibt Geschichten, in denen die Jagd diejenigen verschont, die den Mut haben, ihr die Stirn zu bieten.«
»Nein!« Talia kämpfte gegen den Drang an, sie an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. »Ihr dürft euer Leben nicht einer Geschichte anvertrauen!«
Mit einer Handbewegung gab Mutter Khardija ihr zu verstehen, dass dieses Thema erledigt war. »Was macht dein Bein?«
»Es geht mir gut. Schnee hat den Schnitt genäht.«
»Und deine Freundin, die, die gebissen wurde?«
Talia seufzte. »Sie ist nicht meine Freundin und sie hat ihre Wunde selbst verarztet.«
»Tierbisse sind besonders gefährlich«, sagte Khardija. »Frag eine der Schwestern nach einem Breiumschlag mit -«
»Wieso hat Faziya den Tempel verlassen, Mutter?«
Khardija wandte sich ab. »Du weißt, dass der Tempel kein Gelübde verlangt. Jedem steht es frei, jederzeit zu gehen. Deine Freundin ist eine Kha’iida. Es liegt in ihrer Natur, zu wandern.«
Die Vorstellung, dass Mutter Khardija sie belog, schmerzte. »Faziya hat acht Jahre ihres Lebens in diesem Tempel verbracht. Hier war ihr Zuhause. Sie verließ den Tempel nur zum Kirchgang.«
»Es gibt Aspekte des Elfenglaubens, die sie immer anziehend fand.«
»Ich weiß.« Wie viele Male hatten sie sich wegen Faziyas Loyalität
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