Rotkäppchens Rache
Talia.
»Menschenwachen sind die geringsten unserer Sorgen.« Roudette zeigte durch das Tor auf den langen, ovalen Teich vor dem Gebäude. »Wassernymphen. Drei. Sie dürfen sich nicht zu weit von ihrer Quelle entfernen, aber wenn sie dich erwischen, ziehen sie dich unter Wasser und ertränken dich.«
Mittlerweile hatten sie die Aufmerksamkeit der beiden Wachen am Tor auf sich gezogen. Talia ging an den Straßenrand und trat in den spärlichen Schatten eines Gebäudes, das wie ein Badehaus roch. »Im hinteren Teil werden auch Wachen postiert sein, und an Deckung bietet die Anlage nicht gerade viel.«
»Wo befindet sich der Garten?«, fragte Schnee.
»Auf dem zentralen Dach.« Talia wölbte zum Schutz vor der Sonne die Hand über die Augen. »Wenn du ein Stück zurückgehst, kannst du das Grün der Bäume sehen, die über die Mauern auf dem Dach ragen.«
»Könnte Schnees Magie uns hineinbringen?«, fragte Danielle. »Wie wäre es, wenn du uns in Vögel verwandelst?«
Schnee lachte. »Bist du jemals geflogen, Prinzessin? Selbst wenn Roudette ihren dreckigen Umhang so lange ausziehen würde, dass ich den Zauber wirken kann, dauert es lange Zeit, bis man Flügel beherrscht. Eine falsche Bewegung, und du klatschst mit dem Hirn gegen eine Mauer.« Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie die Villa an, bis sie die Kräuselung von Elfenmagie bemerkte. »Es gibt auch magische Schutzvorrichtungen.«
»Ich hatte Angst hiervor.« Talia fing an, die Straße wieder hinunterzugehen, fort von der Villa.
»Angst wovor?«, wollte Schnee wissen. »Erzähl mir nicht, dass du aufgibst!«
Talia kam an der Kreuzung an und sah sich stirnrunzelnd um. »Als ich in Jahrasima lebte, machten meine … Freunde mich mit anderen Wegen in verschiedene Gebäude bekannt. Ich hatte gehofft, ich könnte sie vermeiden, aber die Abwasserkanäle -«
»Arathea hat Abwasserkanäle?«, staunte Danielle.
Talia schnitt eine Grimasse. »Ein weiteres Elfengeschenk. Der See umgibt Jahrasima, aber unter der Stadt gibt es noch eine Anzahl kleinerer Reservoirs. Hunderte von Tunneln befördern sauberes Wasser zu den Brunnen; andere schaffen Abfälle zum Stadtrand, wo sie als Dünger auf den Bauernhöfen benutzt werden.«
»Ich werde nicht in eine Villa einbrechen und dabei nach Abwasser stinken!«, erklärte Schnee. »Können wir nicht durch die Brunnen rein?«
»Die meisten Brunnen sind öffentlich.« Talia führte sie an einem braunen Gebäude vorbei, das nach Bäckerei roch. »Selbst um die Mittagszeit würden wir nie hineinkommen, ohne gesehen zu werden. Die Eingänge zu den Abwasserkanälen hingegen liegen versteckt, außer Sicht; dort werden wir vermutlich keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen.«
Sie schlugen sich in eine schmale Gasse zwischen der Bäckerei und einer Fleischerei. Talia kniete neben einem Steingitter nieder, dessen Löcher in Form einer Blume mit ovalen Blütenblättern um einen zentralen Kreis herum ausgemeißelt waren. Die Ränder wiesen rostbraune Flecken auf.
Roudette rümpfte die Nase. »Habe ich erwähnt, dass eine der Gaben des Wolfsfells ein ausgeprägter Geruchssinn ist?«
Talia ergriff eine Seite des Gitters. »Roudette?«
Roudette knurrte tief in der Brust, ging aber in die Hocke und packte die andere Seite. Gemeinsam zogen sie den Stein hoch und schoben ihn zur Seite.
Schnee versuchte es ein letztes Mal. »Woher wollen wir wissen, dass wir so tatsächlich in die Villa der Raikh kommen? Sie hat doch bestimmt keinen Kanaldeckel in ihrem eigenen Haus anbringen lassen!«
»Sie hat aber bestimmt ihren eigenen Brunnen«, entgegnete Talia, »und die Abwasserkanäle werden uns zum Wasserreservoir führen.«
Schnee erbleichte. »Du meinst, die Tunnel sind alle miteinander verbunden? Trinkwasser und Abwasser? Was ist mit dem Nebel in der Kirche? Bitte sag mir nicht, dass wir mit -«
»Die Brunnen sind alle sauber«, versicherte Talia ihr. »So rein, wie Elfenmagie sie machen kann. Das Sammelbecken speist die Abwasserkanäle, aber der Wasserfluss findet nur in eine Richtung statt. Jetzt kommt, bevor uns jemand entdeckt!«
Schnee blickte finster drein. »Das war das letzte Mal, dass ich dir die Planung des Einbruchs überlassen habe!«
*
Die Füße zu beiden Seiten des Lochs auf den Boden gestemmt, ließ Talia Danielle in die Dunkelheit hinab. Sie beugte sich vor und hielt sich mit einer Hand am Rand des Lochs fest. Danielle war schwerer als bei ihrer Flucht vor ihren Stiefschwestern, eine Folge besseren Essens, der
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