Rotkehlchen
räusperte sich: »Du vergisst, dass auch auf den derzeitigen Präsidenten vor einigen Jahren geschossen worden ist, beziehungsweise auf sein Haus.«
»Das ist richtig. Doch diese Vorfälle rechnen wir gar nicht mit, das würde sonst viel werden. Ich glaube, sagen zu dürfen, dass es in den letzten zwanzig Jahren keinen amerikanischen Präsidenten gegeben hat, auf den nicht in seiner Amtszeit mindestens zehn Attentate geplant worden sind; nur wurden die potentiellen Attentäter jeweils geschnappt und der Presse keine Mitteilung davon gemacht.«
»Warum nicht?«
Der Polizeiabteilungschef Bjarne Møller glaubte, die Frage nur gedacht zu haben, und war ebenso überrascht wie die anderen, seine Stimme zu hören. Er schluckte, als er bemerkte, dass sich ihm alle zuwandten, und versuchte, sich weiterhin auf Meirik zu konzentrieren. Doch ohne es zu wollen, wanderte sein Blick zu Brandhaug. Der Staatssekretär zwinkerte ihm beruhigend zu.
»Nun, wie Sie wissen, ist es üblich, vereitelte Attentate vor der Presse geheim zu halten«, sagte Meirik und nahm seine Brille ab. Sie ähnelte der Brille von Horst Tappert, ein Modell aus einem Versandhauskatalog, das dunkler wurde, wenn man in die Sonne kam.
»Seitdem man begriffen hat, dass Attentate mindestens ebenso ansteckend sind wie Selbstmorde. Außerdem ist es in unserer Branche üblich, die Arbeitsmethoden nicht offen zu legen.«
»Welche Pläne gibt es für die Bewachung?«, unterbrach ihn der Sekretär.
Die Frau mit den hohen Wangenknochen reichte Meirik einen Zettel, der wieder die Brille aufsetzte und zu lesen begann.
»Am Donnerstag kommen acht Männer vom Secret Service. Dannbeginnen wir, die Hotels abzuchecken, die Reiseroute und all die Leute zu überprüfen, die sich in der Nähe des Präsidenten aufhalten werden, und außerdem die norwegischen Polizisten zu schulen, die zum Einsatz kommen sollen. Wir werden zusätzliche Kräfte aus Romerike, Asker und Bwrum anfordern.«
»Und wo sollen die eingesetzt werden?«, fragte der Sekretär.
»Hauptsächlich beim Personen-und Objektschutz. Da sind die amerikanische Botschaft, das Hotel, in dem die Mitreisenden wohnen, der Wagenpark …«
»Kurz gesagt, all die Orte, an denen sich der Präsident nicht aufhält?«
»Darum kümmern wir uns vom PÜD selbst. Und der Secret Service ebenfalls.«
»Ich dachte immer, Personenschutz sei nicht gerade deine Lieblingsbeschäftigung, Kurt?«, bemerkte Brandhaug mit einem Grinsen.
Diese Erinnerung zwang Kurt Meirik zu einem angestrengten Lächeln. Während der Osloer Minenkonferenz, 1998, hatte sich das PÜD mit Hinweis auf die von ihm erarbeitete Bedrohungsanalyse, die nur eine geringe Gefahr sah, geweigert, eigenes Schutzpersonal abzustellen. Am zweiten Tag der Konferenz hatte die Ausländerbehörde das Auswärtige Amt darauf aufmerksam gemacht, dass einer der Norweger, der auf Anweisung des PÜD als Chauffeur für die kroatische Delegation arbeitete, bosnischer Muslim war. Er war bereits in den siebziger Jahren nach Norwegen gekommen und seit langem norwegischer Staatsbürger. Doch im Jahre 1993 waren seine Eltern und vier Geschwister von Kroaten bei Mostar in Bosnien-Herzegowina ermordet worden.
Als die Wohnung des Mannes durchsucht wurde, fand man zwei Handgranaten und ein Bekennerschreiben. Die Presse hatte davon natürlich nie Wind bekommen, doch die nachfolgende Untersuchung war bis zur Regierungsebene gegangen, und Kurt Meiriks weitere Karriere hatte so lange am seidenen Faden gehangen, bis Bernt Brandhaug persönlich eingeschritten war. Die Sache war unter den Teppich gekehrt worden, nachdem der Polizist, der den Mann überprüft hatte, von sich aus gekündigt hatte. Brandhaug erinnerte sich nicht mehr an den Namen des Polizisten, doch die Zusammenarbeit mit Meirik war seither reibungslos verlaufen.
»Bjørn!«, rief Meirik und klatschte in die Hände. »Jetzt sind wir gespannt darauf, was du uns sagen wolltest. Bitte.«
Brandhaugs Blick glitt rasch an Meiriks Mitarbeiterin vorbei, doch nicht zu rasch, um nicht zu bemerken, dass sie ihn ansah. Das heißt, sie sah zwar in seine Richtung, doch ihre Augen waren ausdruckslos und abwesend. Er erwog kurz, ihrem Blick standzuhalten, um herauszubekommen, wie sie reagieren würde, wenn sie plötzlich bemerkte, dass er ihren Blick erwiderte, doch er ließ es dann sein. Ihr Name war doch Rakel, oder?
Slottsparken, 5. Oktober 1999
5 »Bist du tot?« Der alte Mann öffnete die Augen und sah den Umriss eines Kopfes
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