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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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über sich, doch das Gesicht verschwand im weißen Glorienschein. War sie das, war sie bereits gekommen, um ihn zu holen?
    »Bist du tot?«, wiederholte die helle Stimme.
    Er antwortete nicht, denn er wusste nicht, ob seine Augen geöffnet waren oder ob er bloß träumte, oder, wie die Stimme vermutete, tot war.
    »Wie heißt du?«
    Der Kopf bewegte sich und er sah stattdessen Baumkronen und blauen Himmel. Er hatte geträumt. Etwas aus einem Gedicht. »Deutsche Bomber über uns.« Nordahl Grieg. Über den König, der nach England floh. Seine Pupillen begannen, sich wieder an das Licht zu gewöhnen, und er erinnerte sich daran, dass er sich ins Gras des Schlossparks gesetzt hatte, um auszuruhen. Er musste eingeschlafen sein. Ein kleiner Junge hockte neben ihm und ein paar braune Augen sahen ihn unter einem schwarzen Pony hinweg an.
    »Ich heiße Ali«, sagte der Junge.
    Ein Pakistanerkind? Der Junge hatte eine merkwürdige Stupsnase. »Ali bedeutet Gott«, sagte der Junge. »Was bedeutet dein Name?«
    »Ich heiße Daniel«, antwortete der alte Mann und lächelte. »Das ist ein biblischer Name. Er bedeutet Gott ist mein Richter.«
    Der Junge sah ihn an.
    »Du bist also Daniel?«
    »Ja«, erwiderte der Mann.
    Der Junge schaute ihn unverwandt an und der Alte wurde verlegen. Der Kleine glaubte vielleicht, er sei ein Penner, so wie er in seinen Kleidern, den Mantel als Decke über sich, in der Sonne lag.
    »Wo ist deine Mutter?«, fragte er, um dem Blick des Jungen zu entgehen.
    »Dort.« Der Junge drehte sich um und zeigte nach hinten. Zwei dunkle kräftige Frauen saßen ein Stück von ihm entfernt im Gras. Vier Kinder spielten um sie herum.
    »Dann bin ich dein Richter, ja«, sagte der Junge.
    »Was?«
    »Ali ist Gott, oder? Und Gott ist der Richter von Daniel. Und ich heiße Ali und du heißt …«
    Der Alte hatte seine Hand ausgestreckt und Alis Nase gepackt. Der Junge heulte auf vor Schreck. Er sah, wie sich die Köpfe der beiden Frauen ihm zuwandten und sich eine von ihnen bereits erhob. Dann ließ er die Nase des Jungen los.
    »Ist das deine Mutter, Ali?«, fragte er und nickte in Richtung der sich nähernden Frau.
    »Mama!«, rief der Junge. »Guck mal, ich bin der Richter über diesen Mann!«
    Die Frau rief dem Kind etwas auf Urdu zu. Der Alte lächelte sie an, doch sie wich seinem Blick aus und starrte bloß ihren Sohn an, der schließlich gehorchte und zu ihr hinüberging. Als sie sich umdrehte, huschte der Blick der Frau über ihn, als wäre er unsichtbar. Er hatte Lust, ihr zu erklären, dass er kein Bettler war, sondern mitgeholfen hatte, diese Gesellschaft aufzubauen. Er hatte sein Bestes getan, alles gegeben, bis er nichts mehr zu geben hatte und nur noch Platz machen konnte, beiseite treten, aufgeben. Doch er vermochte es nicht, er war müde und wollte einfach nur nach Hause. Ausruhen und dann weitersehen. Es war an der Zeit, dass einige andere ihre Rechnungen beglichen.
    Er hörte nicht, was der kleine Junge ihm nachrief, als er ging.
     
    Polizeipräsidium, Oslo-Gr ø nland, 10. Oktober 1999
     
    6 Ellen Gjelten sah zu dem Mann auf, der zur Tür hereingeplatzt kam. »Guten Morgen, Harry.«
    »Verdammt!«
    Harry trat gegen den Mülleimer neben seinem Schreibtisch, so dass dieser neben Ellen an die Wand krachte und dann wegrollte, während sich sein Inhalt auf dem Linoleumboden verteilte: zerrissene Berichtsentwürfe (Ekeberg-Mordsache), eine leere Zigarettenpackung (Camel – zollfrei), ein grüner Joghurtbecher, eine Zeitung, eine benutzte Kinokarte (Filmtheater: Fear & Loathing in Las Vegas), ein nicht benutzter Tippschein, eine Bananenschale, ein Musikmagazin (MOJO, Nr. 69, Februar 1999, mit einem Bild von Queen auf dem Cover), eine Colaflasche (Plastik, 0,5 Liter) und ein gelber Post-it-Zettel mit einer Telefonnummer, die anzurufen er eine Zeit lang ernsthaft erwogen hatte.
    Ellen sah von ihrem PC auf und begutachtete den Müll auf dem Boden. »Du schmeißt die MOJO-Ausgaben weg, Harry?«, fragte sie.
    »Verdammt!«, wiederholte Harry, riss sich die enge Anzugjacke herunter und warf sie quer durch das zwanzig Quadratmeter große Büro, das er sich mit Ellen Gjelten teilte. Die Jacke traf die Garderobe, glitt aber zu Boden.
    »Was ist los?«, fragte Ellen und streckte die Hand aus, um den schwankenden Garderobenständer festzuhalten.
    »Ich hab das hier in meinem Postfach gefunden.«
    Harry wedelte mit einem Dokument herum.
    »Sieht aus wie ein Gerichtsurteil.«
    »Genau.«
    »Die

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