Rotkehlchen
Dennis-Kebab-Sache?«
»Ja.«
»Und?«
»Sie geben Sverre Olsen die Höchststrafe. Dreieinhalb Jahre.« »Aber dann solltest du doch eigentlich bester Laune sein.«
»Ich war es etwa eine Minute lang. Bis ich das hier gelesen habe.« Harry hielt ein Fax hoch.
»Was ist das?«
»Als Krohn heute Morgen seine Kopie des Urteils erhielt, antwortete er uns mit dem Hinweis, dass er auf Grund eines Verfahrensfehlers Einspruch gegen das Urteil einlegen werde.«
Ellen sah aus, als hätte sie irgendwelche Schmerzen im Mund. »Oje.«
»Er fordert die Aufhebung des Urteils. Es ist nicht zu glauben, aber dieser Krohn packt uns mit einem Verfahrensfehler bei der Vereidigung.«
»Wie das denn?«
Harry stellte sich ans Fenster.
»Die Schöffen müssen nur beim ersten Mal vereidigt werden, doch das muss im Gerichtssaal erfolgen, bevor das Verfahren beginnt. Krohn hat bemerkt, dass die eine Schöffin neu war. Und dass der Richter darauf verzichtet hat, sie im Gerichtssaal zu vereidigen.«
»Das nenn ich Absicherung.«
»Jetzt heißt es im Urteil, der Richter habe die Frau unmittelbar vor Beginn des Verfahrens in seinem Zimmer vereidigt. Er begründet das mit Zeitnot und neuen Verordnungen.«
Harry knüllte das Fax zusammen und warf es in hohem Bogen in Richtung Ellens Papierkorb, den er um einen halben Meter verfehlte.
»Und jetzt?«, fragte Ellen und schoss das Fax in Harrys Bürobereich zurück.
»Das ganze Urteil wird für ungültig erklärt werden und Sverre Olsen wird mindestens anderthalb Jahre lang ein freier Mann sein, bis die Sache wieder vor Gericht kommt. Und wie immer wird dann das Urteil wegen der Belastung des Angeklagten durch die lange Wartezeit etcetera wesentlich milder ausfallen. Mit den acht Monaten Untersuchungshaft, die er ja schon hinter sich hat, ist Sverre Olsen quasi jetzt schon ein freier Mann.«
Harry sprach nicht mit Ellen, sie kannte alle Details. Er redete mit seinem eigenen Spiegelbild im Fenster und sprach die Worte laut aus, um zu hören, ob sie so vielleicht mehr Sinn machten. Dann fuhr er sich mit beiden Händen über seinen verschwitzten Kopf, auf dem noch vor kurzem kurze blonde Haare gesprossen waren. Es gab einen konkreten Grund dafür, dass er auch diese noch abrasiert hatte: Letzte Woche war er wiedererkannt worden. Ein Junge mit schwarzer Strickmütze, Nike-Schuhen und Homey-Hosen, die so groß waren,dass der Schritt zwischen den Knien hing, war zu ihm herübergekommen, während seine Kumpels im Hintergrund kicherten, und hatte ihn gefragt, ob er nicht dieser Bruce-Willis-Typ aus Australien sei. Es lag drei – drei! – Jahre zurück, dass er die Titelseiten der Tageszeitungen geschmückt und sich in TV-Shows mit seinen Geschichten darüber lächerlich gemacht hatte, wie er in Sydney einen Serienmörder zur Strecke gebracht hatte. Harry hatte sich daraufhin sofort alle Haare abrasiert. Ellen hatte ihm vorgeschlagen, sich einen Bart wachsen zu lassen.
»Das Schlimmste ist, dass ich mir, verdammt noch mal, sicher bin, dass dieser Winkeladvokat das Spiel durchschaut hat, noch ehe das Urteil gesprochen wurde, und mit einem einzigen Wort dafür hätte sorgen können, dass die Vereidigung doch noch vor Ort stattfand. Aber der hat bloß dagesessen, sich die Hände gerieben und abgewartet.«
Ellen zuckte mit den Schultern.
»So etwas kommt vor. Gute Arbeit eines Verteidigers. So manches muss auf dem Altar der Rechtssicherheit geopfert werden. Reiß dich zusammen, Harry.«
Sie sagte das mit einer Mischung aus Sarkasmus und Nüchternheit.
Harry legte seine Stirn an das kühle Glas. Noch einer dieser unerwartet warmen Oktobertage. Er fragte sich, wo Ellen, diese frisch gebackene Ermittlerin mit dem blassen, süßen Puppengesicht, dem kleinen Mund und den kugelrunden Augen, dieses Pokerface gelernt hatte. Sie stammte aus gutem Hause und war, wie sie selbst sagte, ein verwöhntes Einzelkind, das sogar auf einem Schweizer Internat gewesen war. Wer weiß, vielleicht bereitete gerade so eine Erziehung optimal auf das raue Leben vor.
Harry legte den Kopf in den Nacken und atmete aus. Dann öffnete er einen Knopf an seinem Hemd.
»Mehr, mehr«, flüsterte Ellen, wobei sie mit Händen und Füßen vorsichtig applaudierte.
»Im Neonazimilieu nennen sie ihn den Batman-Typ.«
»Verstehe, die Baseballkeule – bat.«
»Nicht den Nazi – diesen Anwalt.«
»Echt? Na, das ist ja interessant. Heißt das, dass er schön, reich, und total verrückt ist und einen Waschbrettbauch und ein cooles
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