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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Straße gefahren, in der sie wohnte. Sie hatten so geparkt, dass sie von ihrer Wohnung aus nicht gesehen werden konnten, selbst aber bemerkten, wenn sie das Haus verließ. Er hatte gesagt, es könne die ganze Nacht dauern, ihn gebeten, sich zu entspannen, diese verfluchte Negermusik angestellt und die Rückenlehne abgesenkt. Aber bereits nach einer halben Stunde war die Haustür aufgegangen, und der Prinz hatte gesagt: »Da ist sie.«
    Sverre war ihr nachgehastet, doch er erreichte sie erst, als sie die dunkle Straße bereits verlassen hatte und zu viele Menschen um sie herum waren. Irgendwo hatte sie sich plötzlich umgedreht und ihn direkt angesehen, und er war sich einen Moment lang sicher gewesen, entlarvt zu sein und dass sie das Ende des Baseballschlägers entdeckt hatte, das aus dem Jackenkragen herausragte. Er war so ängstlich gewesen, dass er das Zucken in seinem Gesicht nicht unter Kontrolle hatte; doch später, als sie wieder aus dem 7-Eleven herausgekommen war, hatte sich diese Angst in Wut verwandelt. Er erinnerte sich an das, was unter der Laterne passiert war, aber dennoch fehlten manche Details, wie in dieser Quizshow im Fernsehen, wo man nur ein Stückchen von einem Bild sah und dann raten musste, was man sah.
    Er öffnete seine Augen wieder und starrte auf die verzogenen Gipsplatten über der Tür. Wenn er das Geld bekam, würde er einen Dachdecker organisieren und diese undichte Stelle in Ordnung bringen lassen, über die sich Mama so oft aufgeregt hatte. Er bemühte sich, an das Dach zu denken, doch er wusste, dass das bloß ein Versuch war, die anderen Gedanken fern zu halten. Dass etwas nicht stimmte. Dass es dieses Mal anders gewesen war. Nicht wie bei diesem Pakki in Dennis Kebab. Dieses Mädchen war eine ganz gewöhnliche norwegische Frau. Braune kurze Haare, blaue Augen. Sie hätte seine Schwester sein können. Er versuchte sich immer wieder zu sagen, was der Prinz ihm eingehämmert hatte: dass er ein Soldat war, dass es für die Sache war.
    Er warf einen Blick auf das Bild, das er unter der Hakenkreuzflagge an die Wand geheftet hatte. Es zeigte den SS-Reichsführer und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler an einem Rednerpult, als dieser 1941 in Oslo war. Er sprach zu den freiwilligen Norwegern, die in die Waffen-SS aufgenommen wurden. Schwarze Uniformen. SS-Initialen am Kragen. Vidkun Quisling im Hintergrund. Himmkr. Ehrenvoller Tod am 23. Mai 1945. Selbstmord.
    »Verflucht!«
    Sverre stellte seine Füße auf den Boden, stand auf und begann ruhelos auf und ab zu gehen.
    Vor dem Spiegel an der Tür blieb er stehen. Fasste sich an den Kopf. Dann durchwühlte er die Taschen seiner Jacke. Verdammt, wo war seine Combat-Mütze? Einen Augenblick lang packte ihn die Panik bei dem Gedanken, dass sie neben ihr im Schnee liegen könnte, doch dann fiel ihm ein, dass er die Mütze noch hatte, als er zum Auto des Prinzen zurückgekommen war. Er atmete aus.
    Den Baseballschläger hatte er so entsorgt, wie ihm das der Prinz empfohlen hatte. Er hatte seine Fingerabdrücke abgewischt und ihn in den Fluss geworfen. Jetzt durfte er nur nicht auffallen, er musste einfach abwarten, was geschehen würde. Der Prinz hatte gesagt, er würde sich darum kümmern, wie er es früher schon getan hatte. Wo der Prinz arbeitete, wusste Sverre nicht; aber dass er gute Verbindungen zur Polizei hatte, war auf jeden Fall sicher. Er zog sich vor dem Spiegel aus. Die Tätowierungen auf seiner Haut sahen in dem weißen Mondlicht, das durch die Gardinen hereinfiel, grau aus. Er fuhr mit den Fingern über das Eisenkreuz, das um seinen Hals hing.
    »Du Hure«, murmelte er. »Du verdammte Kommunistenhure.«
    Als er endlich einschlief, begann es im Osten zu dämmern.
     
    Hamburg, 30. Juni 1944
     
    51 Liebe, geliebte Helena,
     
    ich liebe dich mehr als mich selbst, das weißt du jetzt. Auch wenn wir nur einen kurzen Moment hatten und noch ein langes und glückliches (das weiß ich) Leben vor dir liegt, hoffe ich, dass du mich nieganz vergessen wirst. Es ist Abend und ich sitze in einem Schlafsaal am Hamburger Hafen. Draußen fallen die Bomben. Ich bin allein, die anderen haben in Bunkern und Kellern Schutz gesucht und hier gibt es keinen Strom, doch die Brände ringsherum geben mir Licht genug, um zu schreiben.
    Kurz vor Hamburg mussten wir den Zug verlassen, weil die Gleise in der Nacht zuvor von Bomben zerstört worden waren. Wir wurden auf Lastwagen in die Stadt gebracht und ein schrecklicher Anblick erwartete uns. Jedes

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