Rotkehlchen
nicht notwendig.«
»Das liegt quasi auf meinem Weg.«
»Wohnst du auch am Holmenkollen?«
»Ganz in der Nähe, oder fast. Bislett.«
Sie lachte.
»Auf der anderen Seite der Stadt also. Dann weiß ich, auf was du aus bist.«
Harry lächelte töricht. Sie legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Ich soll dir wieder helfen, dein Auto anzuschieben, nicht wahr?«
»Scheint weg zu sein, Helge«, sagte Ellen
Sie stand bereits in ihr Cape gehüllt am Fenster und sah durch dieGardinen nach draußen. Die Straße unter ihr war leer. Das Taxi, das dort gestanden hatte, war mit drei heftig angetrunkenen Freundinnen verschwunden. Helge antwortete nicht. Der einflügelige Vogel zwinkerte nur zweimal und kratzte sich mit seinem Meisenfuß am Bauch.
Sie versuchte noch einmal, Harry über das Handy zu erreichen, doch die gleiche Frauenstimme wiederholte, dass das Handy ausgeschaltet war oder sich nicht im Sendegebiet befand.
Dann legte Ellen das Tuch über den Käfig, sagte gute Nacht, machte das Licht aus und ging nach draußen. Es war noch immer kein Mensch in der Jens Bjelkes Gate, und sie hastete in Richtung Thorvald Meyers Gate, die, wie sie wusste, an Samstagabenden wie diesem vor Menschen wimmelte. Vor dem Restaurant Frau Hagen nickte sie ein paar Menschen zu, mit denen sie an irgendeinem feuchtfröhlichen Abend hier auf Grünerl ø kkas Parademeile mal ein paar Worte gewechselt haben musste. Ihr fiel ein, dass sie Kim versprochen hatte, noch Zigaretten zu besorgen, und als sie sich umdrehte, um zurück zum 7-Eleven im Markveien zu gehen, sah sie noch ein Gesicht, an das sie sich schwach erinnerte. Sie lächelte automatisch, als sie bemerkte, dass sie angesehen wurde.
Im 7-Eleven blieb sie stehen und versuchte sich daran zu erinnern, ob Kim Camel oder Camel-Light rauchte, und ihr wurde plötzlich bewusst, wie kurz sie eigentlich erst zusammen waren. Und wie viel sie noch übereinander lernen mussten. Und dass ihr das zum ersten Mal in ihrem Leben keinen Schrecken einjagte, sondern sie mit Freude erfüllte. Sie war ganz einfach verdammt glücklich. Der Gedanke daran, dass er nur drei Häuserblocks entfernt nackt unter einer Decke lag, erfüllte sie mit einer wonnigen, matten Lust. Sie entschied sich für Camel und wartete ungeduldig darauf, an der Reihe zu sein. Draußen auf der Straße beschloss sie, die Abkürzung entlang des Flusses Akerselva zu nehmen.
Wieder fiel ihr auf, wie schnell man selbst in einer großen Stadt von dem reinsten Menschengewimmel in die vollkommene Abgeschiedenheit geraten konnte. Plötzlich waren das Glucksen des Flusses und das Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln das Einzige, was sie hören konnte. Ihre Reue, die Abkürzung genommen zu haben, kam zu spät, als sie wahrnahm, dass sie nicht nur ihre eigenen Schritte hörte. Und jetzt hörte sie auch den Atem, schwer und keuchend.Ängstlich und wütend, dachte Ellen, und wusste im gleichen Augenblick, dass sie in Lebensgefahr war. Sie drehte sich nicht um, sondern begann einfach zu laufen. Die Schritte hinter ihr fielen sofort in den gleichen Takt. Sie versuchte, effektiv und ruhig zu laufen, nicht in Panik zu geraten und keine Kräfte zu vergeuden. Lauf jetzt nicht wie eine Verrückte, dachte sie und griff nach dem Gasspray in ihrer Manteltasche, doch die Schritte kamen unerbittlich näher. Sie wollte sich einreden, dass sie gerettet wäre, wenn sie es bis zu dem einsamen Lichtkegel vor ihr auf dem Weg schaffen würde. Und wusste zugleich, dass das nicht stimmte. Genau unter der Laterne wurde sie vom ersten Schlag auf die Schulter getroffen und seitlich in den Schnee geworfen. Der zweite Schlag lähmte ihren Arm und das Gasspray rutschte aus ihren tauben Fingern. Der dritte zerschmetterte ihre Kniescheibe, doch die Schmerzen blockierten den Schrei, der noch immer tief in ihrer Kehle festsaß und die Pulsader an ihrem winterbleichen Hals anschwellen ließ. Sie sah den gleichen Mann, den sie vor Frau Hagen gesehen hatte, und die Polizistin in ihr registrierte automatisch, dass er eine kurze grüne Jacke trug, schwarze Boots und eine Combat-Mütze. Der erste Schlag auf ihren Kopf zerstörte den Sehnerv und sie nahm nur noch das Schwarz der Nacht wahr.
Vierzig Prozent der Heckenbraunellen überleben, dachte sie. Ich werde den Winter schon irgendwie überstehen.
Ihre Finger wühlten durch den Schnee, um sich irgendwo festzuhalten. Der nächste Schlag traf ihren Hinterkopf.
Der Winter ist bald vorbei, dachte sie. Ich werde ihn
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