Rotkehlchen
überleben.
Harry hielt an der Auffahrt zu Rakel Faukes Villa am Holmenkollveien. Der weiße Mondschein verlieh ihrer Haut einen unwirklichen, leichenblasssen Schimmer, und trotz des Halbdunkels im Auto konnte er aus ihren Augen lesen, dass sie müde war.
»Na dann«, sagte Rakel.
»Tja dann«, sagte Harry.
»Ich würde dich gern noch mit nach oben einladen, aber …« Harry lachte. »Ich denke, Oleg würde das sicher nicht so gut finden.«
»Oleg schläft friedlich, ich denke eher an die Babysitterin.« »Babysitterin?«
»Olegs Babysitterin ist die Tochter von einem Kollegen aus dem PÜD. Versteh mich bitte nicht falsch, aber ich will solche Gerüchte auf der Arbeit nicht haben.«
Harry starrte auf die Instrumente im Armaturenbrett. Das Glas des Tachometers hatte einen Sprung, und er hatte das Gefühl, dass die Sicherung des Öllämpchens durchgebrannt war.
»Ist Oleg dein Kind?«
»Ja, was dachtest du denn?«
»Ich dachte, das wäre vielleicht dein Lebensgefährte.«
»Welcher Lebensgefährte?«
Der Zigarettenanzünder war entweder aus dem Fenster geworfen oder zusammen mit dem Radio geklaut worden.
»Ich habe Oleg bekommen, als ich in Moskau war«, erzählte sie. »Sein Vater und ich wohnten zwei Jahre zusammen.«
»Was ist geschehen?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Nichts ist geschehen. Uns ist nur einfach die Liebe abhanden gekommen. Und dann bin ich zurück nach Oslo.«
»Du bist also …«
»Allein erziehende Mutter. Und du?«
»Allein. Sonst nichts.«
»Bevor du bei uns angefangen hast, erwähnte jemand etwas von dir und der Frau, mit der du da unten im Gewaltdezernat das Büro teiltest.«
»Ellen? Nein. Wir sind einfach super miteinander ausgekommen. Kommen gut miteinander aus. Sie hilft mir noch immer bei der einen oder anderen Sache.«
»Womit denn?«
»Jetzt bei der Sache, an der ich arbeite.«
»Ach ja, das.«
Sie sah wieder auf ihre Uhr.
»Soll ich dir helfen, die Autotür aufzumachen?«, fragte Harry. Sie lächelte, schüttelte den Kopf und gab ihr einen Stoß mit der Schulter. Die Tür quietschte in den Scharnieren, als sie aufging.
Es war ruhig am Holmenkollen, nur ein leises Rauschen der Bäume war zu hören. Sie stellte einen Fuß draußen in den Schnee. »Gute Nacht, Harry.«
»Nur noch eins.«
»Ja?«
»Als ich das letzte Mal hier war, warum hast du mich da nicht gefragt, was ich von deinem Vater wollte? Du hast bloß gefragt, ob du mir helfen könntest.«
»Berufskrankheit. Ich frage nicht nach Sachen, mit denen ich nichts zu tun habe.«
»Bist du noch immer nicht neugierig?«
»Ich bin immer neugierig, ich frage bloß nicht. Um was geht es?«
»Ich suche nach einem Frontkämpfer, mit dem dein Vater gemeinsam im Krieg gewesen sein könnte. Dieser Frontkämpfer hat eine Märklin-Waffe bestellt. Dein Vater wirkte im übrigen überhaupt nicht verbittert, als ich mit ihm gesprochen habe.«
»Dieses Buchprojekt scheint ihn wieder irgendwie geweckt zu haben. Ich bin selbst überrascht.«
»Vielleicht findet ihr eines Tages wieder zueinander?« »Vielleicht«, sagte sie.
Ihre Blicke begegneten sich, verhakten sich quasi und kamen nicht voneinander los.
»Flirten wir jetzt?«, fragte sie.
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
Er hatte ihre lachenden Augen noch lange vor sich, nachdem er das Auto in Bislett im Parkverbot abgestellt und das Monster unter das Bett zurückgejagt hatte, und er schlief ein, ohne das kleine rote Blinken im Wohnzimmer zu bemerken, das verriet, dass er eine noch nicht abgehörte Nachricht auf dem Anrufbeantworter hatte.
Sverre Olsen schloss die Tür leise hinter sich, zog seine Schuhe aus und schlich die Treppe hoch. Er machte einen großen Schritt über die eine Stufe, die knarrte, wusste aber doch, dass das alles nutzlos war.
»Sverre?«
Das Rufen kam durch die offene Schlafzimmertür.
»Ja, Mama.«
»Wo bist du gewesen?«
»Unterwegs, Mama. Jetzt gehe ich ins Bett.«
Er verschloss seine Ohren für ihre Worte, er kannte sie ja ohnehin. Sie prasselten wie heftiger Schneeregen auf ihn ein und lösten sichauf, sobald sie den Boden erreichten. Dann machte er die Tür seines Zimmers zu und war allein. Er legte sich aufs Bett, starrte an die Decke und ließ die Geschehnisse noch einmal Revue passieren. Es war wie ein Film. Er schloss die Augen, versuchte die Bilder fern zu halten, doch der Film lief einfach weiter.
Er hatte keine Ahnung, wer sie war. Der Prinz hatte ihn, wie abgemacht, am Schous Platz abgeholt und dann in die
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