Rotkehlchen
anderem darüber, dass ein amerikanischer Psychologe zu der Erkenntnis gekommen sei, die menschlichen Lebensläufe seien bis zu einem gewissen Grad erblich, dass sich, sind wir erst in die Rolle unserer Eltern geschlüpft, auch unsere Lebensläufe ähneln. Mein Vater wurde nach Mutters Tod ein Eigenbrötler, ein Sonderling, und jetzt ist Aune besorgt, mit mir könne nach den heftigen Erlebnissen, die ich hatte, das Gleiche geschehen. Du weißt schon – die Sache in Vindern. Und in Sydney. Und jetzt das hier. Ich habe ihm erzählt, wie ich meine Tage zubringe, musste aber lachen, als Doktor Aune sagte, es sei Helge, der mich davon abhalte, die Zügel meines Lebens einfach vollkommen fallen zu lassen. Eine Kohlmeise! Aune ist, wie gesagt, ein guter Mann, aber er sollte diesen Psychologiekram einfach lassen.
Ich hab Rakel angerufen und sie gefragt, ob sie mit mir ausgehen will. Sie sagte, sie würde darüber nachdenken. Ich weiß nicht, warum ich mir das antue.«
Jens Bjelkes Gate, 17. März 2000
58 »… or informiert. Diese Nummer ist nicht vergeben. Telenor informiert. Diese Nummer ist …«
TEIL VI
BATSEBA
M ø 11ers Büro, 24. April 2000
59 Die erste Frühlingsoffensive kam spät. Erst Ende März begann es in den Rinnsteinen zu gurgeln und zu fließen. Im April hatte sich der ganze Schnee bis zum Sognsvann zurückgezogen. Doch dann musste der Frühling wieder den Rückzug antreten. Neuer Schnee rieselte herab, blieb sogar mitten in der Stadt liegen, und es vergingen erneut Wochen, bis die Sonne alles geschmolzen hatte. Hundekot und Müll vom vergangenen Jahr lagen in den Straßen und stanken. Der Wind nahm auf den freien Flächen des Grønlandsleiret und neben der Galerie Oslo Anlauf und wirbelte den Streusand auf, so dass sich die Menschen die Augen rieben und husteten. Man unterhielt sich über die allein erziehende Mutter, die vielleicht eines Tages Königin werden würde, die Fußball-Europameisterschaft und das ungewöhnliche Wetter. Im Polizeipräsidium redete man darüber, was man Ostern gemacht hatte, oder über die mickrigen Lohnerhöhungen und tat ansonsten so, als sei alles wie zuvor.
Nichts war wie zuvor. Harry saß in seinem Büro mit den Beinen auf dem Tisch und sah in den wolkenlosen Tag hinaus. Rentnerinnen mit unkleidsamen Hüten füllten die morgendlichen Bürgersteige, Botendienste fuhren mit ihren Transportern bei Gelb, all die kleinen Dinge, die der Stadt den trügerischen Anschein von Normalität gaben. Er fragte sich das jetzt schon lange: War er der Einzige, der sich nicht täuschen ließ? Sechs Wochen waren vergangen, seit sie Ellen beerdigt hatten, doch wenn er aus dem Fenster sah, bemerkte er keine Veränderung.
Es klopfte an der Tür. Harry antwortete nicht, sie öffnete sich trotzdem. Es war der Abteilungschef Bjarne Møller.
»Ich hab gehört, dass du wieder da bist.«
Harry sah, dass einer der roten Busse an der Haltestelle stehen blieb. Die Reklame auf der Seite warb für die Storebrand Lebensversicherung.
»Kannst du mir sagen, warum, Chef? Die reden von Lebensversicherung, dabei handelt es sich doch eigentlich um eine Todesversicherung.«
Møller seufzte und setzte sich auf den Rand des Schreibtisches. »Warum gibt es hier nicht noch einen Stuhl, Harry?«
»Die Menschen kommen schneller zur Sache, wenn sie nicht sitzen.« Harry starrte noch immer aus dem Fenster.
»Wir haben dich auf der Beerdigung vermisst, Harry.«
»Ich hatte mich umgezogen«, sagte Harry mehr zu sich selbst als zu Møller. »Bin sicher, dass ich auch auf dem Weg war. Als ich aufblickte und die traurige Versammlung um mich herum bemerkte, glaubte ich sogar einen Augenblick lang, dort zu sein. Bis ich Maja mit dem Trockentuch vor mir sah und erkannte, dass sie auf meine Bestellung wartete.«
»Ich dachte mir schon, dass es so etwas war«, sagte Møller.
Ein Hund lief über den braunen Rasen, die Nase am Boden, den Schwanz nach oben gereckt. Wenigstens einer schätzte den Osloer Frühling.
»Was ist danach passiert?«, fragte Møller. »Wir haben dich eine Weile nicht gesehen.«
Harry zuckte mit den Schultern.
»Ich war beschäftigt. Hab einen neuen Mitbewohner bekommen – eine einflügelige Kohlmeise. Und ich hab zu Hause gehockt und mir alte Telefonmitteilungen angehört. Es stellte sich heraus, dass all die Nachrichten der letzten zwei Jahre auf einem halbstündigen Band Platz hatten. Und alle waren von Ellen. Traurig, nicht wahr? Nun, vielleicht auch
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