Rotkehlchen
war Notwehr«, sagte Harry.
»Formalien«, sagte Krohn. »Es war ein erfahrener Polizist, er hätte wissen müssen, dass Olsen sehr labil ist, und nicht einfach so hereinplatzen dürfen. Der Polizist hätte wirklich angeklagt werden müssen.«
Harry konnte es nicht lassen:
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass es immer traurig ist, wenn Verbrecher aufgrund von Formalien auf freiem Fuß sind.«
Krohn klimperte zweimal mit den Augen, ehe er begriff, was Harry meinte.
»Juristische Formalitäten sind etwas anderes, Konstabel«, sagte er. »Einen Eid im Gerichtssaal abzulegen ist vielleicht ein Detail, aber ohne Rechtssicherheit …«
»Mein Dienstgrad ist Kommissionsleiter.« Harry gab sich Mühe, langsam und leise zu sprechen. »Und die Rechtssicherheit, von der Sie reden, hat meiner Kollegin das Leben gekostet. Ellen Gjelten. Erzählen Sie das Ihrem Gedächtnis, auf das Sie so stolz sind. Ellen Gjelten. Achtundzwanzig Jahre. Das größte Ermittlungstalent der Osloer Polizei. Zertrümmerter Schädel. Schrecklicher Tod.«
Harry stand auf und beugte seine einhundertneunzig Zentimeter über Krohns Schreibtisch. Er konnte sehen, wie der Adamsapfel in Krohns dünnem Geierhals auf-und abhüpfte, und zwei lange Sekunden hindurch leistete sich Harry den Luxus, die Angst in den Augen des jungen Anwalts zu genießen. Dann ließ Harry seine Visitenkarte auf den Schreibtisch fallen.
»Rufen Sie mich an, wenn Sie sich entschieden haben, wie weit Ihre Schweigepflicht reicht«, sagte er.
Harry war halb durch die Tür, als Krohns Stimme ihn zurückhielt.
»Er hat mich unmittelbar vor seinem Tod angerufen.«
Harry drehte sich um. Krohn seufzte.
»Er hatte Angst vor jemandem. Er hatte immer Angst, dieser Sverre Olsen. War einsam und voller Todesangst.«
»Wer ist das nicht?«, murmelte Harry. Und dann: »Hat er gesagt, vor wem er Angst hatte?«
»Vor einem Prinzen. Er nannte ihn so: Prinz.«
»Hat Olsen gesagt, warum er Angst hatte?«
»Nein. Er sagte bloß, dieser Prinz sei eine Art Übergeordneter und er habe ihm den Befehl zu einem Verbrechen gegeben. Dann wollte er wissen, ob es strafbar ist, wenn man bloß einen Befehl ausgeführt hat. Armer Idiot.«
»Was für einen Befehl?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Hat er sonst noch was gesagt?«
Krohn schüttelte den Kopf.
»Sie können jederzeit anrufen, wenn Ihnen noch etwas einfällt«, sagte Harry.
»Noch eine Sache, Herr Kommissionsleiter. Wenn Sie glauben, dass ich ruhig schlafen kann, obgleich ich den Mann freigeboxt habe, der Ihre Kollegin auf dem Gewissen hat, dann täuschen Sie sich.«
Doch Harry war bereits gegangen.
Herbert’s Pizza, 12. Mai 2000
81 Harry rief Halvorsen an und bat ihn, in Herbert’s Pizza zu kommen. Sie hatten das Lokal fast für sich und wählten einen Tisch am Fenster. Hinten in der Ecke saß ein Kerl in einer langen Uniformjacke. Er trug einen Bart wie Adolf Hitler und hatte seine Beine mitsamt den Stiefeln auf einen anderen Stuhl gelegt. Er sah aus, als wollte er einen neuen Weltrekord im Sichlangweilen aufstellen.
Halvorsen hatte Edvard Mosken gefunden, doch nicht in Drammen. »Er hat nicht abgenommen, als ich ihn in Drammen angerufen habe, und deshalb habe ich mir über die Auskunft seine Handynummer besorgt. Es stellte sich heraus, dass er in Oslo war. Er hat eine Wohnung in der Tromsøgate im Stadtteil Rodel ø kka. Er wohnt dort, wenn er in Bjerke ist.«
»Bjerke?«
»Auf der Trabrennbahn. Er scheint jeden Freitag und Samstag da zu sein. Spielt ein bisschen und lässt es sich gut gehen, so hat er das jedenfalls ausgedrückt. Er besitzt gemeinsam mit drei anderen ein Pferd. Ich habe ihn im Stall hinter der Rennbahn getroffen.«
»Was hat er sonst noch gesagt?«
»Dass er manchmal, wenn er in Oslo ist, vormittags ins Schrøder geht. Dass er keine Ahnung hat, wer Bernt Brandhaug ist, und dass er ihn ganz sicher nicht zu Hause angerufen hat. Er wusste, wer Signe Juul ist, und sagte, er könne sich noch von der Front an sie erinnern.«
»Wie sieht’s mit seinem Alibi aus?«
Halvorsen bestellte eine Hawaii Tropic mit Peperoni und Ananas.
»Mosken behauptet, dass er die ganze Woche über allein in seiner Wohnung in der Tromsøgate war, abgesehen von seinen Besuchen auf der Rennbahn. Er war angeblich auch an dem Morgen da, an dem Brandhaug erschossen worden ist. Und heute früh.«
»Tja dann. Wie hat er bei seinen Antworten auf dich gewirkt?«
»Wie meinst du das?«
»Hast du ihm geglaubt?«
»Ja und nein
Weitere Kostenlose Bücher