Rotkehlchen
Lippenstift?«
Juul sah Harry an, ohne zu antworten.
»Sie hatte Angst, als sie mich anrief«, sagte Harry. »Sie behauptete, jemand wolle sie töten. Haben Sie eine Idee, wer das sein könnte?«
»Töten?«
»Das hat sie gesagt.«
»Es gibt doch niemanden, der Signe töten will.«
»Ach nein?«
»Sind Sie verrückt?«
»Nun, dann verstehen Sie wohl, dass ich Sie fragen muss, ob Ihre Frau manchmal psychisch instabil ist, ob sie zur Hysterie neigt.«
Harry war sich nicht sicher, ob Juul seine Frage verstanden hatte, denn der schüttelte bloß den Kopf.
»Gut«, sagte Harry und stand auf. »Überlegen Sie noch mal, ob Sie nicht doch etwas wissen, was uns weiterhelfen könnte. Und Sie sollten alle Freunde und Verwandten anrufen, bei denen sie Zuflucht gesucht haben könnte. Ich habe sie zur Fahndung ausgeschrieben und Moen und ich werden in der Nachbarschaft herumfragen. Vorläufig können wir sonst nicht viel tun.«
Als Harry das Tor hinter sich schloss, kam Moen auf ihn zu. Er schüttelte den Kopf.
»Haben die Leute nicht mal ein Auto gesehen?«, fragte Harry. »Zu dieser Tageszeit sind nur Rentner und junge Mütter mit Säuglingen zu Hause.«
»Rentner beobachten aber doch gerne das eine oder andere.« »Diese hier anscheinend nicht. Falls überhaupt etwas passiert ist, das es wert war, beobachtet zu werden.«
Wert war, beobachtet zu werden. Harry wusste nicht, warum, aber etwas an dem Wortlaut hallte ganz hinten in seinem Hirn wider. Die Kinder auf den Fahrrädern waren verschwunden. Er seufzte.
»Lass uns gehen.«
Polizeipräsidium, 12. Mai 2000
79 Halvorsen hing am Telefon, als Harry ins Büro kam. Er gab ihm zu verstehen, dass er mit einem Informanten redete. Harry rechnete damit, dass er noch immer versuchte, die Frau aus dem Continental aufzuspüren, was nur bedeuten konnte, dass er im Außenministerium keinen Erfolg gehabt hatte. Abgesehen von ein paar Archivkopien auf Halvorsens Schreibtisch war das Büro von allem, außer der Märklin-Sache, befreit worden.
»Na dann«, sagte Halvorsen. »Melde dich, wenn du was hörst, ja?«
Er legte auf.
»Hast du Aune erreicht?«, fragte Harry und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
Halvorsen nickte und streckte zwei Finger in die Höhe. Zwei Uhr. Harry sah auf die Uhr. Aune würde in zwanzig Minuten da sein.
»Besorg mir ein Foto von Edvard Mosken«, sagte Harry und nahm den Hörer ab. Er wählte Sindre Faukes Nummer, der sich bereit erklärte, ihn um drei zu treffen. Dann informierte er Halvorsen über das Verschwinden von Signe Juul.
»Glaubst du, das hat etwas mit der Brandhaug-Sache zu tun?«, fragte Halvorsen.
»Ich weiß nicht, aber deshalb ist es umso wichtiger, mit Aune zu reden.«
»Warum?«
»Weil das immer mehr wie das Werk eines kranken Mannes aussieht. Und deshalb brauchen wir einen Guide.«
Aune war in vielerlei Hinsicht ein großer Mann. Übergewichtig, fast zwei Meter groß und in seinem Fachgebiet einer der besten Psychologen des Landes. Psychopathen gehörten nicht direkt zu seinem Fachgebiet, doch Aune war ein kluger Mann und hatte Harry schon bei anderen Anlässen geholfen.
Er hatte ein freundliches, offenes Gesicht, und Harry hatte sich mehr als einmal gesagt, dass Mine eigentlich zu menschlich wirkte, zu verletzbar, zu normal, um auf diesem Schlachtfeld der menschlichen Seelen zu operieren, ohne selbst dabei Schaden zu nehmen. Als er ihn daraufhin ansprach, hatte Aune geantwortet, dass dasnatürlich nicht spurlos an ihm vorübergehe, doch bei wem sei das schon anders?
Jetzt hörte er interessiert und konzentriert zu, während Harry erzählte: über den Mord an Hallgrim Dale, dem die Kehle durchgeschnitten worden war, den Mord an Ellen Gjelten und über das Attentat, dem Bernt Brandhaug zum Opfer gefallen war. Harry berichtete von Even Juul, der der Ansicht sei, sie sollten in Frontkämpferkreisen suchen, eine Theorie, die unter Umständen dadurch gestützt wurde, dass der Mord an Brandhaug einen Tag nach dessen Verlautbarungen im Dagbladet geschehen war. Zu guter Letzt kam er auf das Verschwinden von Signe Juul zu sprechen.
Aune blieb nach Harrys Erläuterungen still sitzen und dachte nach. Er grunzte, während er abwechselnd nickte und den Kopf schüttelte.
»Ich weiß leider nicht, ob ich euch groß helfen kann«, bekannte er. »Das Einzige, wozu mir etwas einfällt, ist diese Nachricht auf dem Spiegel. Das sieht aus wie eine Visitenkarte und ist ziemlich üblich für Serienmörder, insbesondere nach
Weitere Kostenlose Bücher