Rotkehlchen
der Kommode.«
Als Oleg mit seinem Gameboy, den er zu guter Letzt in der Spielzeugkiste gefunden hatte, die Treppe herunterkam, nahm er die Stimmung im Wohnzimmer nicht gleich wahr und lachte über Harrys bekümmertes Brummen, als dieser die hohe Punktzahl sah. Aber gerade als Harry den Versuch gestartet hatte, den Rekord zu brechen, hörte er Olegs Stimme:
»Warum guckt ihr so komisch?«
Harry sah zu Rakel, der es kaum gelang, ernst zu bleiben.
»Weil wir uns so gern haben«, sagte Harry und beseitigte drei Linien mit einem langen, dünnen Balken ganz rechts außen. »Und deinem Rekord geht’s jetzt bald an den Kragen, du Verlierer.« Oleg lachte und schlug Harry auf die Schulter.
»Keine Chance, diesmal verlierst du.«
Harrys Wohnung 12. Mai 2000
83 Harry fühlte sich nicht wie ein Verlierer, als er kurz vor Mitternacht in seine Wohnung kam und das rote Auge des Anrufbeantworters blinken sah. Er hatte Oleg ins Bett getragen und dann mit Rakel Tee getrunken. Sie hatte gesagt, dass sie ihm irgendwann einmal eine lange Geschichte erzählen werde. Wenn sie nicht so müde sei. Harry hatte gemeint, sie brauche Ferien, womit sie einverstanden war.
»Wir können alle drei zusammen fahren«, hatte er vorgeschlagen. »Wenn diese Sache vorüber ist.«
Sie hatte ihm über den Kopf gestreichelt.
»Du darfst über so etwas keine Scherze machen, Hole.« »Wer spricht hier von Scherzen?«
»Ich will jetzt aber nicht darüber reden, geh nach Hause, Hole.« Sie hatten sich im Flur noch einmal geküsst und Harry hatte noch immer ihren Geschmack auf den Lippen.
Auf Socken schlich er sich im Dunkeln ins Wohnzimmer und drückte auf den Play-Knopf des Anrufbeantworters. Sindre Faukes Stimme erfüllte das Dunkel:»Hier ist Fauke. Ich hab mir ein paar Gedanken gemacht. Wenn Daniel Gudeson mehr als ein Gespenst ist, gibt es nur eine Person hier auf der Welt, die dieses Rätsel lösen kann. Und das ist der Mann, der gemeinsam mit ihm Wache hatte, als Daniel an diesem Silvesterabend angeblich erschossen worden ist: Gudbrand Johansen. Sie müssen Gudbrand Johansen finden, Hole.«
Dann kam das Geräusch, das entsteht, wenn der Hörer aufgelegt wird, und ein Piepen. Als Harry auf das anschließende Klicken wartete, kam eine zweite Nachricht:
»Halvorsen hier. Es ist jetzt halb zwölf. Ich habe gerade einen Anruf von einem der beiden Beamten erhalten, die Mosken observieren sollen. Sie haben vor Moskens Wohnung gewartet, doch er ist nicht nach Hause gekommen. Dann haben sie ihn in Drammen zu erreichen versucht, nur um zu sehen, ob er das Telefon abnimmt. Aber er hat sich nicht gemeldet. Einer der Jungs ist nach Bjerke hochgefahren, doch da war alles verschlossen und dunkel. Ich habe sie dann gebeten, Geduld zu bewahren, und Moskens Auto zur Fahndung ausgeschrieben. Nur dass du das weißt. Wir sehen uns morgen.«
Noch ein Piepen, noch eine Nachricht. Ein neuer Rekord auf Harrys Anrufbeantworter.
»Hier ist noch mal Halvorsen. Ich werde wohl langsam senil, jetzt hab ich die andere Sache ganz vergessen. Es sieht nämlich so aus, als hätten wir endlich einmal Glück gehabt. Das SS-Archiv hatte nichts über Gudeson oder Johansen. Sie rieten mir aber, das zentrale Wehrmachtsarchiv in Berlin anzurufen. Dort hatte ich einen ziemlichen Griesgram am Telefon, der meinte, nur ganz wenige Norweger seien im regulären deutschen Heer gewesen. Doch als ich ihm die Sache erklärte, willigte er ein, trotzdem einmal nachzusehen. Nach einer Weile rief er mich zurück und sagte, er hätte wie erwartet nichts über einen Daniel Gudeson. Doch er hat Kopien von Papieren über einen Gudbrand Johansen gefunden, tatsächlich einem Norweger. Aus diesen geht hervor, dass Johansen 1944 von der Waffen-SS an die Wehrmacht überstellt worden ist. Und auf der Kopie steht der Vermerk, dass die Originalpapiere im Sommer 1944 nach Oslo geschickt worden seien, was nach Aussage unseres Mannes in Berlin nur bedeuten kann, dass Johansen dorthin beordert worden ist. Er fand auch Korrespondenz von einem Arzt, der Johansens Krankmeldung unterschrieben hat. In Wien.«
Harry setzte sich auf den einzigen Stuhl im Wohnzimmer.
»Der Name des Arztes war Christopher Brockhard vom Rudolph II. Hospital. Ich hab das über die Polizei in Wien überprüft, und es stellte sich heraus, dass dieses Krankenhaus noch immer in Betrieb ist. Sie haben mir sogar gut zwanzig Namen von noch heute lebenden Personen besorgt, die während des Krieges dort arbeiteten.«
Die Teutonen
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