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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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warum – vielleicht hielt er es für weniger aufdringlich, seinen Wagen hier unten abzustellen. Lächerlich, natürlich, nachdem er ja ohnehin unangemeldet und ungebeten kam.
    Er war halb in der Einfahrt, als sein Handy klingelte. Es war Halvorsen, der ihn aus dem Landesverräterarchiv anrief.
    »Nichts«, meldete er. »Wenn Daniel Gudeson wirklich am Leben ist, wurde er auf jeden Fall nie wegen Landesverrats angeklagt.« »Und Signe Juul?«
    »Sie wurde zu einem Jahr verurteilt.«
    »Doch das Gefängnis blieb ihr ja erspart. Sonst noch was Interessantes?«
    »Nee – und jetzt fangen die hier langsam an, mich rauszuschmeißen, sie wollen zumachen.«
    »Geh nach Hause und schlaf dich aus. Vielleicht stoßen wir morgen auf etwas.«
    Harry stand am Fuß der Treppe und wollte eben die Stufen in einem Satz hochspringen, als die Tür aufging. Er blieb stehen. Rakel trug einen Wollpullover und Jeans, ihre Haare waren verstrubbelt und ihr Gesicht noch blasser als sonst. Er suchte in ihren Augen nach einem Funken Wiedersehensfreude, fand aber nichts. Aber auch nicht diese neutrale Höflichkeit, vor der ihm am meisten graute. Ihre Augen drückten eigentlich gar nichts aus, was auch immer das bedeuten sollte.
    »Ich habe draußen jemanden sprechen hören«, sagte sie. »Komm rein.«
    Im Wohnzimmer hockte Oleg in einem Pyjama und sah fern. »Hei, du Verlierer«, begrüßte ihn Harry. »Solltest du nicht besser Tetris üben?«
    Oleg brummte etwas, ohne aufzusehen.
    »Ich vergesse immer, dass Kinder nicht mit Ironie umgehen können«, sagte Harry zu Rakel.
    »Wo bist du gewesen?«, fragte Oleg.
    »Gewesen?« Harry war ein bisschen verwirrt, als er Olegs anklagenden Gesichtsausdruck wahrnahm. »Wie meinst du das?«
    Oleg zuckte mit den Schultern.
    »Kaffee?«, fragte Rakel. Harry nickte. Oleg und Harry saßen still da und beobachteten die endlos lange Wanderung der Gnus durch die Wüste Kalahari, während Rakel in der Küche herumhantierte. Es dauerte, die Wanderung ebenso wie der Kaffee.
    »Sechsundfünfzigtausend«, sagte Oleg schließlich.
    »Glaub ich dir nicht«, sagte Harry.
    »Ich bin ganz oben auf der All-Time-High-Liste!«
    »Zeig mal, hol mir das her!«
    Oleg stürmte aus der Stube, als Rakel mit dem Kaffee hereinkam und ihm gegenüber Platz nahm. Harry nahm die Fernbedienung und drosselte die Lautstärke der donnernden Hufe. Es war Rakel, die schließlich das Schweigen brach.
    »Und, was machst du dieses Jahr am Nationalfeiertag?« »Arbeiten. Aber wenn du irgendwie eine Einladung andeuten willst, werde ich Himmel und Erde …«
    Sie lachte und winkte ab.
    »Entschuldigung, ich wollte nur Konversation betreiben. Lass uns über etwas anderes sprechen.«
    »Du bist also krank?«, fragte Harry.
    »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Ein bisschen Zeit solltest du doch haben.«
    »Warum bist du zurück, Harry?«
    »Wegen Brandhaug. Mit dem ich merkwürdigerweise hier bei dir gesprochen habe.«
    »Ja, das Leben ist voller absurder Zusammentreffen«, sagte Rakel.
    »Jedenfalls so absurd, dass man damit in einem Roman sicher nicht durchkommen würde.«
    »Du kennst ja nicht einmal die halbe Wahrheit, Harry.« »Wie meinst du das denn?«
    Sie seufzte bloß und rührte in ihrem Tee.
    »Was soll das?«, fragte Harry. »Gibt die ganze Familie heute Abend nur verschlüsselte Andeutungen von sich?«
    Sie versuchte zu lachen, doch es wurde eher ein Schnauben. Frühlingserkältung, dachte Harry.
    »Ich … das …«
    Sie versuchte noch ein paarmal, den Satz zu beginnen, doch es gelang ihr nicht. Der Teelöffel kreiste unablässig durch den Tee. Über ihrer Schulter erblickte Harry ein Gnu, das langsam und ohne jede Gnade von einem Krokodil in den Fluss gezogen wurde.
    »Ich hatte eine schreckliche Zeit«, sagte sie schließlich. »Und ich habe mich nach dir gesehnt.«
    Sie wandte sich Harry zu, und erst jetzt sah er, dass sie weinte. Die Tränen rannen über ihre Wangen und sammelten sich unter dem Kinn. Sie unternahm keinen Versuch, sie zurückzuhalten.
    »Ja …«, begann Harry, und mehr brachte er nicht über die Lippen, ehe sie sich in den Armen lagen. Sie klammerten sich aneinander wie Schiffbrüchige an eine Rettungsboje. Harry zitterte. Nur das, dachte er. Das reicht mir schon. Sie so zu halten.
    »Mama!«, ertönte es von oben. »Wo ist mein Gameboy?«
    »In einer der Kommodenschubladen«, rief Rakel mit zitternder Stimme. »Fang oben an!«
    »Küss mich«, flüsterte sie Harry zu.
    »Aber Oleg kann …«
    »Der ist nicht in

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