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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Verräters deuten, und alle werden sehen, was ER mit denen tut, die nicht reinen Herzens sind. Der Verräter sagte, er liebe sein Land, doch er verließ es; er bat uns, es vor den Eindringlingen zu retten, vor der Gefahr aus dem Osten, stempelte uns danach aber als Landesverräter ab.
     
    Halvorsen rannte auf den Eingang des Schlosses zu, während Harry auf dem offenen Platz stehen blieb und wie ein Betrunkener im Kreis herumlief. Es würde ein paar Minuten dauern, bis der Balkon des Schlosses geräumt war; wichtige Männer mussten erst Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. Man sagte nicht einfach einen Nationalfeiertag ab, weil ein Lehnsmanngehilfe mit einem zweifelhaften Kollegen gesprochen hatte. Harrys Blick glitt über die Menschenmenge, hin und her, ohne recht zu wissen, wonach er suchte.
    Sie wird aus dem Himmel kommen.
    Er hob seinen Blick. Die grünen Bäume. So fern des Todes. Sie waren so hoch und das Laubdach so dicht, dass es selbst mit einem guten Zielfernrohr nicht möglich war, aus einem der umliegenden Häuser zu schießen.
    Harry schloss die Augen. Seine Lippen bewegten sich. Hilf mir jetzt, Ellen.
    Ich habe den Weg freigeräumt.
    Warum hatten die zwei von der Parkpflege gestern so verwundert ausgesehen? Der Baum. Er hatte keine Blätter. Er öffnete die Augen wieder, sein Blick huschte über die Baumwipfel, und dann sah er es: die braune, tote Eiche. Harry spürte, wie sein Herz kräftig zu hämmern begann. Er wendete sich um, stieß fast mit einem Tambourmajor zusammen und rannte auf das Schloss zu. Als er zwischen Balkon und Baum war, blieb er stehen. Er blickte in Richtung Baum. Hinter den nackten Zweigen reckte sich ein blau gefrorener Glaskoloss in die Höhe. Das SAS-Hotel. Natürlich. So leicht. Eine Kugel. Niemand reagiert am 17. Mai auf einen Knall. Und anschließend kann er seelenruhig durch eine hektische Rezeption auf die überfüllte Straße gehen und verschwinden. Und dann? Was dann?
    Er durfte jetzt nicht daran denken, er musste handeln. Musste handeln. Doch er war so müde. Statt aufgeregt zu sein, spürte Harry plötzlich einen unbändigen Drang fortzugehen, nach Hause, sich schlafen zu legen und an einem neuen Tag aufzuwachen, an dem nichts von alledem geschehen war, sondern sich das alles nur als böser Traum entpuppte. Die Sirenen eines über den Drammensvei davonrasenden Krankenwagens weckten ihn auf. Der Laut schnitt durch die alles überdeckende Blasmusik.
    »Scheiße! Scheiße!«
    Dann begann er zu laufen.
     
    Radisson SAS, 17. Mai 2000
     
    115 Der alte Mann lehnte sich mit angezogenen Beinen an das Fenster, hielt das Gewehr mit beiden Händen fest und lauschte der sich langsam entfernenden Krankenwagensirene. Zu spät, dachte er. Alle werden sterben.
    Er hatte sich wieder erbrochen. Fast nur Blut. Die Schmerzen hatten ihm beinahe das Bewusstsein geraubt, und anschließend hatte er zusammengekrümmt auf dem Badezimmerboden gelegen und darauf gewartet, dass die Pillen endlich wirkten. Vier Stück. Die Schmerzen hatten von ihm abgelassen, doch nicht, ohne ihm noch einen letzten Dolchstoß zu versetzen, als wollten sie ihn daran erinnern, dass sie bald wiederkommen würden. Dann hatte das Badezimmer wieder seine normale Form angenommen. Das eine der beiden Badezimmer. Mit Whirlpool. Oder war das ein Dampfbad? Auf jeden Fall gab es einen Fernseher, den er angestellt hatte. Auf allen Kanälen wurden patriotische Lieder und Königsballaden gesendet und festlich gekleidete Reporter berichteten über den Kinderumzug.
    Jetzt hockte er im Zimmer und die Sonne hing wie eine gewaltige Explosion am Himmel und beleuchtete alles. Er wusste, dass er nicht direkt in die Explosionen schauen durfte, denn dann wurde er nachtblind und konnte die russischen Heckenschützen nicht mehr sehen, die dort vor ihm im Niemandsland durch den Schnee robbten.
    »Ich sehe ihn«, flüsterte Daniel. »Ein Uhr, auf dem Balkon gleich hinter dem toten Baum.«
    Baum? Es gab in dieser zerbombten Landschaft doch keine Bäume mehr.
    »Er kommt davon!«, rief eine Stimme, sie hörte sich wie die von Sindre an.
    »Nicht doch«, sagte Daniel. »Keiner dieser Scheißbolschewiken wird davonkommen.«
    »Er merkt, dass wir ihn gesehen haben, und duckt sich gleich in sein Loch!«
    »Nicht doch«, sagte Daniel.
    Der alte Mann legte das Gewehr am Fensterrahmen auf. Mit einem Schraubenzieher hatte er die Verriegelung des Fensters abgeschraubt, das sich eigentlich nur einen Spaltbreit öffnen sollte. Was hatte

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