Rotkehlchen
die Bürgersteigkante in die Vorderräder grub. Der Escort machte einen uneleganten Hopser und befand sich plötzlich auf der Wiese. Der Weg war zu stark bevölkert, so dass Harry über die Wiese weiterfuhr. Er rutschte zwischen dem Teich und vier Jugendlichen hindurch, die auf einer Decke im Park frühstückten. Schon beim Wachhäuschen standen die Menschen eng zusammengedrängt, und Harry hielt an, sprang aus dem Auto und rannte auf die Absperrungen auf dem Schlossplatz zu.
»Polizei!«, brüllte er und kämpfte sich durch die Menschenmenge. Diejenigen, die ganz vorne standen, waren bereits im Morgengrauen aufgestanden, um sich diesen Logenplatz zu sichern, und wichen nur widerwillig zur Seite. Als er über die Absperrung sprang, versuchte ihn ein Wachsoldat aufzuhalten, doch Harry schlug seinen Arm zur Seite, zückte seinen Ausweis und taumelte weiter über den Platz. Unter seinen Sohlen knirschte der Kies. Er drehte dem Kinderumzug den Rücken zu; soeben defilierten die Slemdaler Grundschule und das V å l erenger Jugendorchester zu den Klängen von »I’mjust a gigolo« unter dem Schlossbalkon mit der winkenden Königsfamilie vorbei Er starrte auf eine Wand blanker, lächelnder Gesichter und rot-weiß-blauer Flaggen. Seine Augen suchten die Reihen der Menschen ab: Rentner, fotografierende Onkel, Familienväter mit kleinen Knirpsen auf den Schultern, doch kein Sindre Fauke. Gudbrand Johansen. Daniel Gudeson.
»Scheiße, Scheiße!«
Er schrie mehr aus Panik als aus sonst irgendeinem Grund.
Doch wenigstens dort vor der Absperrung sah er ein bekanntes Gesicht. In Zivil und mit Walkie-Talkie und verspiegelter Sonnenbrille. Er hatte also Harrys Rat befolgt und auf Kosten von Scotsman die Familienväter der Abteilung entlastet.
»Halvorsen!«
Oslo, 17. Mai 2000
113 Signe ist tot. Sie wurde vor drei Tagen wie eine Verräterin mit einer Kugel durch ihr falsches Herz hingerichtet. Nach all der langen Zeit, in der Daniel und ich verbunden waren, verließ er mich, nachdem der Schuss gefallen war. Er ließ mich einsam und verwirrt zurück Zweifel stiegen in mir auf und ich hatte eine schreckliche Nacht. Die Krankheit machte es auch nicht besser. Ich nahm drei von den Pillen, von denen ich laut Dr. Buer bloß eine nehmen darf aber trotzdem waren die Schmerzen unerträglich. Doch schließlich schlief ich ein, und als ich tags darauf aufwachte, war Daniel wieder an seinem Platz. Ich hatte neuen Mut. Das war die vorletzte Etappe und jetzt stapfen wir mutig weiter.
Tritt ans Feuer in den Kreis der Kameraden,
Sieh in die Flammen, so golden und rot,
Wollen wir weiter mit Siegen uns laden,
Braucht es Treue auf Leben und Tod.
Er nähert sich, der Tag, an dem der Große Betrug gerächt werden soll. Ich habe keine Angst.
Das Wichtigste ist natürlich, dass der Verrat an die Öffentlichkeitkommt. Wenn diese Memoiren von der falschen Person gefunden werden, besteht die Gefahr, dass man sie vernichtet oder aus Rücksicht auf die öffentliche Reaktion geheim hält. Sicherheitshalber habe ich die nötigen Spuren aber auch an einen jungen Polizisten aus dem Überwachungsdienst weitergegeben. Es bleibt abzuwarten, wie intelligent er ist, aber ich habe ein sicheres Gefühl im Bauch, dass er eine integre Persönlichkeit ist.
Die letzten Tage waren dramatisch.
Es begann an dem Tag, an dem ich mich entschloss, mit Signe abzurechnen. Ich hatte sie gerade angerufen und ihr mitgeteilt, dass ich kommen wollte, um sie zu holen, und trat aus dem Restaurant Schrøder, als ich Even Juuls Gesicht durch die Fensterfront des gegenüberliegenden Cafés erblickte. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gesehen und ging weiter, aber ich wusste in diesem Moment, dass er mir auf die Schliche kommen würde, wenn er nur richtig nachdachte.
Gestern besuchte mich der Polizist. Ich hatte gedacht, dass die Spuren, die ich ihm gegeben hatte, nicht deutlich genug wären, um den Zusammenhang vor der Vollendung meiner Aufgabe zu erkennen. Doch es stellte sich heraus, dass er in Wien auf die Fährte von Gudbrand Johansen gekommen war. Ich erkannte, dass ich Zeit gewinnen musste, auf jeden Fall achtundvierzig Stunden. Also erzählte ich ihm die Geschichte über Even Juul, die ich mir für den Fall, dass eine solche Situation entstehen würde, ausgedacht hatte. Ich sagte, Even sei eine arme, kranke Seele und dass Daniel in ihm Platz genommen hätte. Zum einen sollte durch die Geschichte der Eindruck entstehen, dass Even Juul hinter allem stand,
Weitere Kostenlose Bücher