Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
ihm dieses Mädchen von der Rezeption damals gesagt? Damit die Gäste nicht »auf dumme Ideen kommen«? Er blickte durch das Zielfernrohr. Die Menschen dort unten waren klein. Er stellte die Entfernung ein. Vierhundert Meter. Wenn man von oben nach unten schießt, muss man die Schwerkraft berücksichtigen; dann bekommt die Kugel eine andere Flugbahn, als wenn man in der Ebene schießt. Aber Daniel wusste das, Daniel wusste alles.
    Der Alte sah auf die Uhr. Viertel vor elf. Zeit, es geschehen zu lassen. Er legte seine Wange an den schweren, kalten Gewehrkolben und umklammerte den Schaft etwas weiter vorne mit der linken Hand. Das linke Auge kniff er ein wenig zu. Das Geländer des Balkons füllte das Zielfernrohr aus. Dann schwarze Anzüge und Zylinder. Er fand das Gesicht, nach dem er suchte. Natürlich sah er ihm ähnlich. Das gleiche junge Gesicht wie 1945.
    Daniel war noch stiller geworden und zielte und zielte. Er schien kaum noch zu atmen.
    Vor dem Balkon, nicht im Fokus, deutete die tote Eiche mit Hexenfingern in den Himmel. Ein Vogel saß auf einem der Zweige. Mitten in der Schusslinie. Der alte Mann bewegte sich unruhig. Der war vorher doch nicht da gewesen. Sicher würde er bald wegfliegen. Er ließ das Gewehr sinken und sog Luft in seine schmerzenden Lungen.
     
    Oink-Oink.
    Harry schlug auf das Lenkrad und drehte den Autoschlüssel noch einmal um.
    Oink-Oink.
    »Jetzt spring schon an, du Scheißkarre! Sonst bring ich dich morgen auf den Schrottplatz!«
    Der Escort kam mit einem Brüllen in Gang und schoss in einer Wolke aus Gras und Erde davon. Am Teich machte er eine scharfe Rechtskurve. Die Jugendlichen auf der Decke reckten ihre Bierflaschenin die Höhe und grölten: »Heia! Heia!«, während Harry in Richtung SAS-Hotel raste. Das Heulen des ersten Ganges und die Hand auf der Hupe halfen, den bevölkerten Weg zu räumen, doch in Höhe des Kindergartens ganz unten im Park tauchte plötzlich ein Kinderwagen hinter einem Baum auf, und Harry riss den Wagen nach links, schlug das Lenkrad in die andere Richtung ein und schleuderte nur knapp am Zaun der Treibhäuser vorbei. Das Auto rutschte vor einem hektisch bremsenden Taxi mit norwegischer Flagge und Birkengrün am Kühler seitlich auf den Wergelandsvei, doch Harry gelang es, Gas zu geben und seinen Wagen an den entgegenkommenden Pkws vorbei in die Holbergsgate zu manövrieren.
    Er hielt vor den Schwingtüren des Hotels an und sprang nach draußen. Als er in die belebte Rezeption stürmte, entstand diese eine Sekunde Stille, in der sich alle fragten, ob sie etwas Einmaliges erleben würden. Doch dann war es nur ein reichlich angetrunkener Mann am 17. Mai – das hatte man zuvor schon einmal erlebt – und die Lautstärke wurde wieder hochgedreht. Harry hastete zu einer dieser idiotischen »Multifunktionsinseln«.
    »Guten Morgen«, sagte eine Stimme. Ein paar hochgezogene Augenbrauen unter hellen, lockigen Haaren, die fast wie eine Perücke aussahen, maßen ihn von Kopf bis Fuß. Harry warf einen Blick auf ihr Namensschild.
    »Betty Andresen, was ich jetzt sage, ist kein schlechter Scherz, also hören Sie gut zu. Ich bin Polizist und hier im Hotel hat sich ein Attentäter einquartiert.«
    Betty Andresen betrachtete den großen, nur halb angezogenen Mann mit den blutunterlaufenen Augen, den sie tatsächlich bereits in die Kategorie »betrunken« oder »verrückt« oder beides eingeordnet hatte. Sie betrachtete den Ausweis, den er ihr entgegenstreckte. Dann sah sie ihn lange an. Lange.
    »Der Name?«, fragte sie.
    »Er heißt Sindre Fauke.«
    Ihre Finger huschten über die Tastatur.
    »Tut mir Leid, unter diesem Namen hat sich niemand eingetragen.«
    »Scheiße! Versuchen Sie Gudbrand Johansen.«
    »Auch kein Gudbrand Johansen, Herr Hole. Vielleicht haben Sie sich im Hotel geirrt?«
    »Nein! Er ist hier, er ist jetzt in seinem Zimmer.«
    »Sie haben also mit ihm gesprochen?«
    »Nein, nein, ich … ach, das dauert zu lang, wenn ich Ihnen das erklären soll.«
    Harry legte sich die Hand über die Augen.
    »Moment, ich muss nachdenken. Er muss weit oben wohnen. Wie viele Etagen gibt es hier?«
    »Zweiundzwanzig.«
    »Und wie viele wohnen über der zehnten Etage, haben aber ihre Schlüssel nicht abgeliefert?«
    »Das sind einige, fürchte ich.«
    Harry hob plötzlich beide Hände und starrte sie an.
    »Natürlich«, flüsterte er. »Das hier ist Daniels Job.«
    »Wie bitte?«
    »Versuchen Sie Daniel Gudeson.«
     
    Was würde anschließend geschehen? Der alte

Weitere Kostenlose Bücher