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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Schluss sein, nur noch ein wenig langsame Zeit, wie die Zeit am Weihnachtsabend, ehe …
    »Oleg«, sagte Harry.
    Der Lauf des Gewehres zeigte noch immer auf seinen Kopf. Eine Autohupe ertönte in der Ferne. Ein Zucken hastete über das Gesicht des Alten.
    »Das Passwort ist Oleg«, sagte Harry.
    Der Finger am Abzug hatte gestoppt.
    Der Alte öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
    Harry hielt den Atem an.
    »Oleg«, sagte der Alte. Es klang wie Wind auf seinen trockenen Lippen.
    Harry konnte es später nicht richtig erklären, aber er sah es: Der Alte starb in dieser Sekunde. Und im nächsten Augenblick war es das Gesicht eines Kindes, das Harry durch die Falten ansah Das Gewehr deutete nicht mehr auf ihn und Harry ließ den Revolver sinken. Dann streckte er vorsichtig seine Hand aus und legte sie dem Alten auf die Schulter.
    »Versprechen Sie es mir?« Die Stimme des Alten war kaum hörbar. »Dass Sie nicht …«
    »Ich verspreche es«, sagte Harry. »Ich werde persönlich dafür sorgen, dass keine Namen genannt werden. Oleg und Rakel werden keinen Schaden erleiden.«
    Der Alte starrte Harry lange an. Das Gewehr fiel mit einem Knall zu Boden und dann kippte er zur Seite.
     
    Harry nahm das Magazin aus der Waffe und legte es auf das Sofa, ehe er die Nummer der Rezeption wählte und Betty bat, einen Krankenwagen zu rufen. Anschließend wählte er Halvorsens Handynummer und sagte ihm, dass die Gefahr vorüber war, ehe er den Alten aufs Sofa legte, sich auf einen Stuhl setzte und wartete.
    »Zu guter Letzt habe ich ihn doch gekriegt«, flüsterte der Alte. »Er wollte sich gerade wieder verkriechen, in seinem Loch, weißt du.«
    »Wen haben Sie gekriegt?«, fragte Harry und inhalierte den Rauch seiner Zigarette.
    »Na, Daniel. Ich habe ihn doch noch gekriegt, Helena hatte Recht. Ich war die ganze Zeit über der Stärkere.«
    Harry drückte seine Zigarette aus und stellte sich ans Fenster. »Ich sterbe«, flüsterte der Alte.
    »Ich weiß«, erwiderte Harry.
    »Er steht auf meiner Brust. Können Sie ihn sehen?«
    »Wen sehen?«
    »Den Iltis!«
    Doch Harry sah keinen Iltis. Er sah eine weiße Wolke wie einen vorüberziehenden Zweifel am Himmel, er sah die norwegischen Flaggen an jeder Fahnenstange im Sonnenschein flattern und er sah einen grauen Vogel am Fenster vorbeifliegen. Aber keinen Iltis.

 
     
     
     
    TEIL X
     
    WIEDER AUFERSTANDEN

 
    Ulleval Krankenhaus, 19. Mai 2000
     
    116 Bjarne Møller fand Harry im Warteraum der onkologischen Abteilung. Er setzte sich neben ihn und zwinkerte einem jungen Mädchen zu, das die Augenbrauen runzelte und wegsah.
    »Es ist vorbei, habe ich gehört?«, sagte er.
    Harry nickte. »Heute Nacht um vier. Rakel war die ganze Zeit hier. Oleg ist jetzt drin. Was machst du hier?«
    »Ich will nur kurz mit dir sprechen.«
    »Ich brauche eine Zigarette«, sagte Harry. »Lass uns nach draußen gehen.«
    Sie setzten sich unter einem Baum auf eine Bank. Dünne Wolken hasteten am Himmel über ihnen vorbei. Es würde ein warmer Tag werden.
    »Rakel weiß also nichts?«, fragte Mollen.
    »Nichts.«
    »Die Einzigen, die Bescheid wissen, sind demnach also ich, Meirik, die Polizeipräsidentin, der Justizminister und der Ministerpräsident. Und du natürlich.«
    »Du weißt besser als ich, wer was weiß, Chef.«
    »Ja, natürlich, ich denke bloß laut.«
    »Also, was wolltest du mir sagen?«
    »Weißt du was, Harry? Manchmal wünschte ich mir, an einem anderen Ort zu arbeiten. Einem Ort, an dem es weniger Politik und mehr Polizeiarbeit gibt. In Bergen, zum Beispiel. Doch dann gibt es wieder Tage wie heute, da stehst du auf, stellst dich ans Schlafzimmerfenster, blickst über den Fjord und die Inseln, hörst das Vogelgezwitscher und … verstehst du? Und plötzlich willst du überhaupt nirgendwo mehr hin.«
    Møller beobachtete einen Marienkäfer, der über seinen Oberschenkel krabbelte.
    »Was ich sagen will, ist, dass ich gerne alle Dinge so lassen würde, wie sie jetzt sind, Harry.«
    »Von welchen Dingen redest du?«
    »Wusstest du, dass kein amerikanischer Präsident in den letzten zwanzig Jahren seine Amtszeit überstanden hat, ohne dass nicht mindestens zehn Attentate aufgedeckt wurden? Und dass die Täterohne Ausnahme geschnappt wurden, ohne dass die Medien davon etwas erfahren hätten? Niemandem ist gedient, wenn etwas über ein geplantes Attentat auf ein Staatsoberhaupt herauskommt, Harry. Ganz besonders dann nicht, wenn es theoretisch erfolgreich hätte sein können.«
    »Theoretisch,

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