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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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die Spiegelungen auf der Flasche gewesen waren, die der russische Heckenschütze gesehen hatte. Im nächsten Augenblick hörte Gudbrand ein hohes ploppendes Geräusch und dann explodierte die Flasche in Daniels Hand. Es regnete Glassplitter und Brandy, und Gudbrand schloss automatisch die Augen. Er spürte, dass sein Gesicht nass wurde, etwas rann über seine Lippen, und er streckte spontan die Zunge heraus und fing ein paar Tropfen auf. Es schmeckte nach fast nichts, bloß nach Alkohol und etwas anderem – etwas Süßlichem, Metallischem. Es war zähflüssig, sicher auf Grund der Kälte, dachte Gudbrand und öffnete wieder die Augen. Er konnte Daniel nicht sehen, er war nicht mehr oben am Rand des Schützengrabens. Er hatte sich wohl hinter das Maschinengewehr geduckt, als ihm klar wurde, dass sie gesehen worden waren, dachte Gudbrand, doch er spürte, dass sein Herz zu rasen begann.
    »Daniel!«
    Keine Antwort.
    »Daniel!«
    Gudbrand rappelte sich auf und kroch zum Rand. Daniel lag auf dem Rücken, den Patronengürtel unter dem Kopf und die Uniformmütze auf dem Gesicht. Der Schnee um ihn herum war voller Blut und Brandy. Gudbrand hob die Uniformmütze hoch. Daniel sah mit aufgerissenen Augen in den Sternenhimmel. Er hatte ein großes, starrendes Loch mitten auf der Stirn. Gudbrand hatte noch immer diesen süßen, metallischen Geschmack im Mund, und er spürte, dass ihm übel wurde.
    »Daniel!«
    Es war nur noch ein Flüstern zwischen seinen trockenen Lippen. So wie Daniel dalag, erinnerte er Gudbrand an einen kleinen Jungen, der Engel in den Schnee hatte zeichnen wollen, dabei aber ganz plötzlich in Schlaf gefallen war. Mit einem Aufschrei warf er sich auf die Sirene und drehte die Kurbel, und während die Lichter zu Boden sanken, erhob sich der durchdringende Klageschrei der Sirene in den Himmel.
    Das durfte doch nicht sein, war alles, was Gudbrand denken konnte.
    Oooooooo-ooooooo …!
    Edvard und die anderen waren herausgekommen und standen hinter ihm. Jemand rief seinen Namen, doch Gudbrand hörte nichts, er drehte die Kurbel immer und immer wieder im Kreis. Schließlich trat Edvard neben ihn und legte seine Hand auf die Kurbel. Gudbrand ließ los, drehte sich aber nicht um, sondern blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf den Rand des Schützengrabens und auf den Himmel darüber, während die Tränen an seinen Wangen festfroren.
    »Das durfte doch nicht sein«, flüsterte er.
     
    Leningrad, 1. Januar 1943
     
    11 Daniel hatte bereits Eiskristalle unter der Nase und in den Augen-und Mundwinkeln, als sie ihn wegtrugen. Manchmal ließen sie die Toten einfach liegen, bis sie in der Kälte starr wurden, denn dann waren sie leichter zu tragen. Doch Daniel hatte das Maschinengewehr blockiert und so war er von zwei Männern ein paar Meter weit zu einer Ausbuchtung im Schützengraben geschleppt worden. Dort hatten sie ihn auf zwei leere Munitionskisten gelegt, die sie zum Feuermachen zur Seite geschafft hatten. Hallgrim Dale hatte ihm einen Leinensack über den Kopf gezogen, damit sie das tote Gesicht mit dem hässlichen Grinsen nicht zu sehen brauchten. Edvard hatte im Nord-Abschnitt angerufen und erklärt, wo Daniel lag. Man hatte ihm zugesagt, noch im Laufe der Nacht zwei Leichenträger zu schicken. Dann hatte der Unteroffizier Sindre vom Krankenlager gescheucht, um gemeinsam mit Gudbrand Wache zu stehen. Als Erstes mussten sie das voll gespritzte Maschinengewehr reinigen.
    »Sie haben Köln in Schutt und Asche gelegt«, sagte Sindre.
    Sie lagen Seite an Seite am Rand des Schützengrabens in der kleinen Vertiefung, von der aus sie das Niemandsland beobachten konnten. Gudbrand bemerkte, wie unangenehm es ihm war, Sindre so nah zu sein.
    »Und Stalingrad geht zum Teufel«, brummte Sindre.
    Gudbrand spürte nichts in der Kälte, so als ob sein Kopf und seinKörper voller Watte wären und ihn nichts mehr etwas anginge. Das Einzige, was er spürte, war das eiskalte Metall, das auf seiner Haut brannte, und die steifen Finger, die ihm nicht mehr gehorchen wollten. Er versuchte es erneut. Der Schaft und der Abzugsmechanismus des Maschinengewehres lagen bereits neben ihm auf der Wolldecke, die über den Schnee gebreitet worden war, doch das Schlussstück war schwieriger zu lösen. In Sennheim hatten sie geübt, das Maschinengewehr mit verbundenen Augen auseinander und zusammenzubauen. Sennheim im schönen, warmen deutschen Elsass. Wie anders war es, wenn man nicht mehr fühlen konnte, was die Finger taten.
    »Hast du

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