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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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nicht gehört?«, fragte Sindre. »Die Russen werden uns kriegen. Genau wie Gudeson.«
    Gudbrand dachte an den deutschen Wehrmachtskapitän, der sich so über Sindre amüsiert hatte, als dieser erzählt hatte, er stamme von einem Hof unweit von Toten.
    »Toten? Wie im Totenreich?«, hatte der Kapitän gelacht. Das Schlussstück rutschte ihm aus der Hand.
    »Verflucht!« Gudbrands Stimme zitterte. »Das ist das Blut, die Teile sind festgefroren.«
    Er zog seine Handschuhe aus, hielt die Spitze der kleinen Sprühflasche mit Waffenöl an das Schlussstück und drückte. Die Kälte hatte die goldfarbene Flüssigkeit zäh und dickflüssig werden lassen, doch er wusste, dass das Öl Blut auflöste. Das Waffenöl hatte ihm einmal bei einer Ohrenentzündung geholfen.
    Sindre lehnte sich plötzlich zu Gudbrand hinüber und knibbelte mit dem Fingernagel an einer Patrone.
    »In Jesu Namen«, sagte er. Er sah zu Gudbrand auf und grinste ihn mit braunen Streifen auf den Zähnen an. Sein blasses, unrasiertes Gesicht war Gudbrand derart nah, dass er den fauligen Atem riechen konnte, den sie alle nach einer Weile bekommen hatten. Sindre hielt den Finger hoch.
    »Wer hätte gedacht, dass Daniel so viel Hirn hatte, was?« Gudbrand wendete sich ab.
    Sindre studierte seine Fingerkuppe. »Hat er aber nicht oft benutzt. Sonst wär er an diesem Abend nicht aus dem Niemandsland zurückgekehrt. Ich hab gehört, wie ihr darüber geredet habt überzulaufen. Ihr wart ja … richtig gute Freunde, ihr zwei.«
    Gudbrand hörte zuerst nicht hin, die Worte waren zu weit entfernt. Dann erreichte ihn das Echo, und er spürte plötzlich, wie die Wärme in seinen Körper zurückfand.
    »Die Deutschen werden nicht zulassen, dass wir uns zurückziehen«, sagte Sindre. »Wir werden hier sterben, jeder von uns. Ihr hättet gehen sollen. Die Bolschewiken sind sicher nicht so hart, wie es Hitler ist, gegen solche wie Daniel und dich. So gute Freunde, meine ich.«
    Gudbrand antwortete nicht. Er spürte die Wärme jetzt bis in seine Fingerspitzen.
    »Wir haben uns überlegt, heute Nacht überzulaufen«, bekannte Sindre. »Hallgrim Dale und ich. Bevor es zu spät ist.«
    Er wandte sich im Schnee herum und blickte Gudbrand an. »Guck nicht so entsetzt, Johansen«, sagte er und grinste. »Warum, glaubst du, waren wir so krank?«
    Gudbrand zog die Zehen in seinen Stiefeln an. Er konnte sie jetzt wirklich spüren. Es war warm und gut. Aber da war doch noch etwas. »Willst du mitkommen, Johansen?«, fragte Sindre.
    Läuse! Ihm war warm, doch er spürte keine Läuse! Sogar das Sausen unter dem Helm war verstummt.
    »Du hast also diese Gerüchte verbreitet«, sagte Gudbrand. »Häh? Was für Gerüchte?«
    »Daniel und ich haben darüber gesprochen, nach Amerika zu gehen, nicht zu den Russen überzulaufen. Und auch nicht jetzt, sondern nach dem Krieg.«
    Sindre zuckte mit den Schultern, sah auf die Uhr und richtete sich auf den Knien auf.
    »Ich werde dich erschießen, wenn du es versuchst«, drohte Gudbrand.
    »Und womit?«, fragte Sindre und nickte zu den Waffenteilen hin, die auf der Decke lagen. Ihre Gewehre lagen im Bunker, und sie wussten beide, dass Gudbrand sie nicht holen konnte, ehe Sindre verschwunden war.
    »Bleib hier und stirb, wenn du willst, Johansen. Du kannst Dale grüßen und ihm sagen, dass er nachkommen soll.«
    Gudbrand schob seine Hand in die Uniform und zog das Bajonett. Das Mondlicht blinkte auf der stählernen Klinge. Sindre schüttelte den Kopf.
    »Kerle wie du und Gudeson sind Träumer. Leg das Messer weg und komm lieber mit. Die Russen erhalten jetzt Verstärkung über den Ladogasee. Frisches Fleisch.«
    »Ich bin kein Verräter«, erklärte Gudbrand.
    Sindre stand auf.
    »Wenn du versuchst, mich mit diesem Bajonett zu töten, wird uns der holländische Lauschposten hören und Alarm schlagen. Benutz deinen Kopf. Wem von uns werden sie wohl glauben, wenn es darum geht, wer den anderen an der Flucht gehindert hat? Dir, wo es bereits Gerüchte gibt, du wolltest abhauen, oder mir, einem Parteimitglied?«
    »Setz dich wieder hin, Sindre Fauke.«
    Sindre lachte.
    »Du tötest mich nicht, Gudbrand. Ich gehe jetzt. Gib mir fünfzig Meter, ehe du Alarm schlägst, dann gehst du auf Nummer sicher.«
    Sie starrten einander an. Kleine, weiche Schneeflocken sanken zwischen ihnen zu Boden. Sindre lächelte:
    »Mondlicht und Schneefall gleichzeitig, das kommt selten vor, nicht wahr?«
     
    Leningrad, 2. Januar 1943
     
    12 Der Schützengraben, in dem die

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