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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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war sein Traum: Er schlief und war irgendwie gleichzeitig auch wach, doch er konnte sich nicht rühren. Die Kiefer des Tieres wollten sich eben um seine Kehle legen, als er von dem Geknatter der Maschinenpistole an der Tür geweckt wurde und gerade noch sah, wie das Tier von der Decke seines Bettes an die Erdwand des Bunkers geschleudert und von Kugeln durchsiebt wurde. Dann wurde es still. Es lag dort auf dem Boden, ein blutiger, unförmiger, pelziger Klumpen. Ein Iltis. Und dann trat der Mann in der Türöffnung aus dem Dunkel in den schmalen Streifen Mondlicht, so dass ein Teil seines Gesichts erhellt wurde. Doch in dieser Nacht war etwas in seinem Traum anders gewesen. Wie immer quoll Rauch aus der Mündung der Waffe und der Mann lächelte auch wie immer, doch er hatte ein großes schwarzes Loch in der Stirn. Und als er sich ihm zuwandte, konnte Gudbrand durch das Loch den Mond am Himmel sehen.
    Als Gudbrand die kalte Zugluft von der Tür spürte, drehte er den Kopf und erstarrte, als er die dunkle Gestalt wahrnahm, die in der Türöffnung stand. Träumte er noch immer? Die Gestalt trat in den Raum, doch es war zu düster, als dass Gudbrand hätte erkennen können, wer es war.
    Die Gestalt blieb plötzlich stehen.
    »Bist du wach, Gudbrand?« Die Stimme war laut und deutlich. Es war Edvard Mosken. Aus den anderen Betten kam ärgerliches Brummen. Edvard kam an Gudbrands Bett.
    »Du musst aufstehen«, sagte er.
    Gudbrand stöhnte. »Das kann nicht sein. Ich bin doch gerade erst abgelöst worden. Dale ist …«
    »Er ist zurück.«
    »Wie meinst du das?«
    »Dale ist gerade zu mir gekommen und hat mich geweckt. Daniel ist zurück.«
    »Wovon redest du?«
    Gudbrand sah nur Edvards weißen Atem in der Finsternis. Dann schwang er seine Beine aus dem Bett und zog die Stiefel unter der Decke hervor. Er hatte sie immer dort, wenn er schlief, damit die feuchten Sohlen nicht gefroren. Er zog seinen Mantel an, den er über die dünne Decke gelegt hatte, und folgte Edvard nach draußen. DieSterne blinkten über ihnen, doch der Nachthimmel begann im Osten langsam hell zu werden. Irgendwo hörte er klagendes Schluchzen, ansonsten war es merkwürdig still.
    »Holländische Frischlinge«, brummte Edvard. »Sie sind gestern angekommen und gerade von ihrem ersten Ausflug ins Niemandsland zurückgekehrt.«
    Dale stand in einer sonderbaren Stellung mitten im Graben: Der Kopf war zur Seite geneigt und die Arme vom Körper weggestreckt. Er hatte sich einen Schal um den Hals gewickelt und das magere Gesicht mit den tief liegenden Augen ließ ihn wie einen Bettler aussehen.
    »Dale!«, kam es laut von Edvard. Dale wachte auf.
    »Zeig es uns.«
    Dale ging voraus. Gudbrand spürte, wie sein Herz schneller schlug. Die Kälte biss ihm in die Haut, doch noch war das warme, traumschwere Gefühl, das er beim Aufstehen gehabt hatte, nicht vollends weggefroren. Der Graben war so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten, und er spürte Edvards Blick im Rücken.
    »Hier«, sagte Dale und machte eine Handbewegung.
    Der Wind pfiff einen rauen Ton unter der Heimkante. Auf den Munitionskisten lag eine Leiche mit steif vom Körper abstehenden Gliedmaßen. Der Schnee, der in den Schützengraben hineingeweht worden war, lag in einer dünnen Schicht auf der Uniform. Ein Brennholzsack war um den Kopf gewickelt worden.
    »Verdammt«, brummte Dale. Er schüttelte den Kopf und stampfte mit den Füßen.
    Edvard sagte nichts. Gudbrand begriff, dass er auf ein Wort von ihm wartete. »Warum haben ihn die Leichenträger nicht geholt?«, fragte er schließlich.
    »Sie haben ihn geholt«, sagte Edvard. »Sie waren gestern Nachmittag hier.«
    »Und warum haben sie ihn dann wieder zurückgetragen?« Gudbrand spürte, dass Edvard ihn ansah.
    »Keiner weiß etwas von einem Befehl, ihn wieder zurückzubringen.«
    »Vielleicht ein Missverständnis?«, mutmaßte Gudbrand. »Vielleicht.« Edvard fischte eine dünne, nur halb gerauchte Zigarette aus der Tasche, drehte sich aus dem Wind und zündete sie imSchutz seiner Hände mit einem Streichholz an. Nach ein paar Zügen gab er sie weiter und sagte:
    »Diejenigen, die ihn geholt haben, schwören, dass sie ihn im Nordsektor in eines der Massengräber gelegt haben.«
    »Wenn das wahr ist, müsste er doch begraben sein?«
    Edvard schüttelte den Kopf.
    »Sie werden erst dann begraben, wenn sie verbrannt sind. Das Feuer entzünden sie aber nur tagsüber, damit die Russen keinen Anhaltspunkt haben, auf den sie zielen

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