Rotkehlchen
gefürchtet. Nicht davor, ihre Mutter zu belügen und zu behaupten, dass sie für ein paar Tage zu ihrer Schwester nach Salzburg führe. Nicht davor, den Sohn des Försters zu überreden, sie zum Hospital zu fahren und vor der Tür zu warten. Nicht einmal davor, von all ihren Sachen Abschied zu nehmen, der Kirche und ihrem Leben im Wienerwald. Sondern davor, ihm alles sagen zu müssen. Dass sie ihn liebte und dass sie bereit war, ihr Leben und ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen. Denn sie könnte sich geirrt haben. Nicht in Bezug auf das, was er für sie empfand, da war sie sich sicher. Aber was seinen Charakter anging. Würde er genug Mut und Entschlossenheit haben für das, was sie vorschlagen würde? Er hatte zumindest begriffen, dass es nicht sein Krieg war, den sie dort unten im Süden gegen die Rote Armee ausfochten.
»Wir sollten eigentlich Zeit haben, um uns besser kennen zu lernen, wir zwei«, sagte sie und legte ihre Hand auf die seine. Er griff sie und hielt sie fest.
»Aber den Luxus haben wir nicht«, fuhr sie fort und drückte seine Hand. »In einer Stunde fährt ein Zug nach Paris. Ich habe zwei Fahrkarten besorgt. Mein Lehrer wohnt dort.«
»Dein Lehrer?«
»Das ist eine lange und komplizierte Geschichte, aber er wird uns aufnehmen.«
»Wie meinst du das, uns aufnehmen?«
»Wir können bei ihm wohnen. Er wohnt alleine. Und es gibt, soweit ich weiß, keine Freunde, mit denen er sich umgibt. Hast du einen Pass?«
»Was? Ja …«
Er sah aus, als wäre er aus allen Wolken gefallen, als fragte er sich, ob er über seinem Buch von dem zerlumpten Jungen eingeschlafen war und das alles nur träumte.
»Ja, ich habe einen Pass.«
»Gut. Die Reise dauert zwei Tage, wir haben Platzkarten und ich habe genügend Proviant mitgenommen.«
Er holte tief Luft:
»Warum Paris?«
»Das ist eine große Stadt, eine Stadt, in der es möglich ist, zu verschwinden. Hör zu, ich hab ein paar Sachen von meinem Vater unten im Auto, da kannst du Zivilkleider anziehen. Seine Schuhgröße …«
»Nein.« Er hob seine Hand und ihr leiser, erregter Redefluss erstarb sogleich. Sie hielt die Luft an und starrte in sein nachdenkliches Gesicht.
»Nein«, wiederholte er flüsternd. »Das wäre dumm.«
»Aber …« Sie glaubte, plötzlich einen Eisklumpen im Bauch zu haben.
»Es ist besser, in Uniform zu reisen«, erklärte er. »Ein junger Mann in Zivil würde nur Misstrauen wecken.«
Sie war so glücklich, dass sie kein Wort mehr über die Lippen brachte, und drückte seine Hand noch fester. Ihr Herz sang so laut und wild, dass sie glaubte, es dämpfen zu müssen.
»Noch eine Sache«, sagte er und schwang seine Beine leise aus dem Bett.
»Ja?«
»Liebst du mich?«
»Ja.«
»Gut.«
Er hatte bereits seine Jacke angezogen.
PÜD, Polizeipräsidium, 21. Februar 2000
26 Harry sah sich um. Ordentliche, übersichtliche Regale, in denen die Ordner brav in chronologischer Reihenfolge angetreten waren. An den Wänden hingen Diplome und Belobigungen für eine geradlinige Karriere. Ein Schwarzweißbild eines jüngeren Kurt Meirik, der in der Majorsuniform des Heeres König Olaf grüßte, hing direkt hinter dem Schreibtisch. Das musste jedem, der hereinkam, auffallen. Es war dieses Bild, das Harry studierte, als sich hinter ihm die Tür öffnete.
»Tut mir Leid, dass Sie warten mussten, Hole. Nehmen Sie doch Platz.«
Das war Meirik. Harry hatte keine Anstalten gemacht aufzustehen.
»Nun«, sagte Meirik und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Wie war Ihre erste Woche bei uns?«
Meirik saß mit gestrecktem Rücken da und entblößte eine Reihe gelblicher großer Zähne, was den Verdacht nahe legte, dass er das Lächeln in seinem Leben nicht allzu oft geübt hatte.
»Ziemlich langweilig«, antwortete Harry.
»Haha.« Meirik sah überrascht aus. »So schlimm wird es doch wohl nicht gewesen sein.«
»Ihr habt hier eindeutig besseren Kaffee als wir da unten.« »Im Dezernat für Gewaltdelikte, meinen Sie.«
»Tut mir Leid«, sagte Harry. »Es dauert eine Weile, sich daran zu gewöhnen, dass ›wir‹ jetzt PÜD bedeutet.«
»Ja, ja, wir müssen wohl ein bisschen Geduld haben. Das gilt in der einen wie in der anderen Hinsicht, nicht wahr, Hole?«
Harry nickte. Kein Grund, gegen Windmühlen zu kämpfen. Jedenfalls nicht schon im ersten Monat. Wie erwartet hatte er ein Büroganz am Ende eines langen Flures bekommen, so dass er die anderen, die dort arbeiteten, nicht häufiger als unbedingt nötig sah. Seine Arbeit
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