Rotkehlchen
Sie ist also geschmuggelt worden.«
Harry zog einen Computerausdruck aus seiner Brusttasche.
»Das hier ist eine Versandliste, die Interpol im letzten November bei einer Razzia bei einem illegalen Waffenhändler in Johannesburg gefunden hat. Sehen Sie hier: Märklin-Gewehr. Und da steht der Bestimmungsort: Oslo.«
»Hm. Wo haben Sie das her?«
»Interpol-File im Internet. Zugänglich für alle im PÜD. Alle, die sich damit abgeben wollen.«
»Ach wirklich?« Meirik ließ seinen Blick einen Moment lang auf Harry ruhen, ehe er den Ausdruck genauer unter die Lupe nahm.
»Gut und schön, aber Waffenschmuggel ist nicht unsere Sache, Hole. Wenn Sie wüssten, wie viele illegale Waffen jedes Jahr von der Waffenabteilung beschlagnahmt werden …«
»Sechshundertelf«, sagte Harry.
»Sechshundertelf?«
»Bis jetzt in diesem Jahr. Und das nur im Polizeidistrikt Oslo. Zwei von dreien stammen von Kriminellen, hauptsächlich leichte Handfeuerwaffen, Gewehre oder abgesägte Schrotflinten. Im Durchschnitt eine pro Tag. In den neunziger Jahren hat sich das fast verdoppelt.«
»Schön, dann verstehen Sie ja sicher, dass wir uns im PÜD nicht schwerpunktmäßig mit dieser unregistrierten Flinte in Biskerud herumschlagen können.«
Meirik konnte sich kaum noch beherrschen. Harry blies den Rauch durch den Mund aus und sah zu, wie er zur Decke stieg. »Siljan liegt in Telemarken«, sagte er.
Meiriks Kiefermuskulatur arbeitete.
»Hole, haben Sie das Zollwesen angerufen?«
»Nein.«
Meirik sah auf seine Armbanduhr, ein dickes, unelegantes Stahlteil, das, wie Harry vermutete, ein Geschenk für viele Dienstjahre war.
»Dann schlage ich vor, dass Sie das tun. Das ist eine Sache für die. Jetzt habe ich aber wirklich anderes …«
»Wissen Sie, was eine Märklin-Waffe ist, Meirik?«
Harry sah, wie sich die Augenbrauen des PÜD-Chefs auf und ab bewegten, und er fragte sich, ob es nicht bereits zu spät war. Er spürte bereits den Luftzug der Windmühlen.
»Das ist nicht unbedingt meine Sache, Hole. Das sollten Sie mit …«
Kurt Meirik schien plötzlich klar zu werden, dass er Holes einziger Vorgesetzter war.
»Eine Märklin-Waffe«, erklärte Harry, »ist ein deutsches halbautomatisches Jagdgewehr, das Projektile mit sechzehn Millimeter Durchmesser braucht, größere als jedes andere Gewehr. Sie ist gedacht für die Jagd auf Großwild wie Wasserbüffel oder Elefanten. Die erste Waffe wurde 1970 gebaut, doch alles in allem wurden nur dreihundert Exemplare produziert, ehe die deutschen Behörden 1973 den Verkauf dieser Waffen verboten. Der Grund war, dass dieses Gewehr mit ein paar einfachen Handgriffen und einem Märklin-Zielfernrohr zu einem vollprofessionellen Mordwerkzeug wird, und 1973 war es bereits die begehrteste Attentatswaffe. Von den dreihundert Waffen befanden sich auf jeden Fall hundert in den Händen von Killern und Terrororganisationen wie der Baader-Meinhof-Bande oder den Roten Brigaden.«
»Hm. Hundert, sagen Sie? Das heißt, dass zwei von dreien die Waffe für den Zweck benutzen, für den sie gedacht war – die Jagd.«
»Aber das ist keine Waffe für die Elchjagd oder sonst irgendeine Jagd, die in Norwegen üblich wäre, Meirik.«
»Ach, warum nicht?«
Harry fragte sich, was Meirik davon abhalten mochte, ihn rauszuschmeißen. Und warum er selbst so versessen darauf war, eine solche Situation heraufzubeschwören. Vielleicht war gar nichts an der Sache dran, vielleicht wurde er nur einfach alt und müde. Egal, Meirik führte sich wie ein gut bezahltes Kindermädchen auf, das es nicht wagte, den Lausebengel hart anzufassen. Harry beobachtete die lange Asche seiner Zigarette, die sich langsam nach unten krümmte.
»Zum einen ist die Jagd in Norwegen traditionell keine Sache nur für Millionäre. Eine Märklin-Waffe kostet inklusive Zielfernrohr an die einhundertfünfzigtausend deutsche Mark, das heißt genauso viel wie ein nagelneuer Mercedes. Und jede Patrone kostet neunzig Mark. Zum anderen sieht ein Elch, der von einem Sechzehn-Millimeter-Geschossgetroffen worden ist, aus, als wäre er von einem Zug angefahren worden. Eine verdammt schmutzige Sache.«
»Haha.« Meirik hatte sich anscheinend entschlossen, seine Taktik zu ändern. Jetzt lehnte er sich nach hinten und verschränkte die Finger hinter seinem blanken Schädel, als wollte er zeigen, dass er nichts dagegen habe, noch ein bisschen von Hole unterhalten zu werden. Harry stand auf, nahm den Aschenbecher oben vom Regal und setzte sich
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