Rotkehlchen
wieder.
»Natürlich ist es möglich, dass die Patrone von irgendeinem fanatischen Waffensammler stammt, der nur sein neues Gewehr getestet hat, und dass es jetzt in einem Glasschrank in einer Villa irgendwo in Norwegen hängt und nie mehr verwendet werden wird. Aber dürfen wir davon ausgehen?«
Meirik bewegte seinen Kopf langsam von einer Seite zur anderen. »Sie schlagen also vor, dass wir davon ausgehen sollten, dass sich derzeit ein professioneller Killer in Norwegen befindet?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Ich schlage bloß vor, dass ich einmal nach Skien hinunterfahre und mir den Ort anschaue. Außerdem zweifle ich daran, dass das ein Profi gewesen ist.«
»Warum?«
»Profis räumen hinter sich auf. Leere Hülsen zurückzulassen ist fast wie eine Visitenkarte zu deponieren. Aber wenn es ein Amateur ist, der dieses Märklin-Gewehr besitzt, macht mich das auch nicht ruhiger.«
Meirik ließ mehrere Hm-Laute hören. Dann nickte er.
»Okay. Und unterrichten Sie mich, wenn Sie etwas über die Pläne unserer Neonazis herausbekommen.«
Harry drückte seine Zigarette aus. Venice, Italy stand auf der Seite des gondelförmigen Aschenbechers.
Linz, 9. Juni 1944
27 Die fünfköpfige Familie stieg aus dem Zug und plötzlich hatten sie das ganze Abteil für sich. Als sich der Zug langsam wieder in Bewegung setzte, nahm Helena am Fenster Platz, doch es war so dunkel, dass sie kaum etwas sehenkonnte, nur die Konturen der Gebäude, die nahe der Gleise standen. Er saß ihr direkt gegenüber und beobachtete sie mit einem Lächeln auf den Lippen.
»Das Verdunkeln beherrscht ihr in Österreich aber wirklich gut«, bemerkte er. »Ich kann nicht ein einziges Licht sehen.«
Sie seufzte. »Wir sind gut darin, Befehle zu befolgen.«
Sie sah auf die Uhr. Es war bald zwei.
»Als Nächstes kommt Salzburg«, sagte sie. »Das liegt direkt an der Grenze zu Deutschland und dann …«
»München, Zürich, Basel, Frankreich und Paris. Das hast du schon dreimal gesagt.«
Er beugte sich vor und drückte ihre Hand.
»Du wirst schon sehen, es wird alles gut gehen. Komm her zu mir.«
Sie stand auf, ohne seine Hand loszulassen, setzte sich neben ihn und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. In der Uniform sah er so verändert aus.
»Dieser Brockhard hat also noch einmal für eine Woche eine Krankmeldung weitergeschickt?«
»Ja, er wollte sie gestern Nachmittag auf die Post geben.« »Warum eine derart kurze Verlängerung?«
»Tja, so kann er die Situation – und mich – besser kontrollieren. Jede Woche müsste ich ihm einen Grund geben, deine Krankmeldung zu verlängern, verstehst du?«
»Ja, ich verstehe«, sagte er, und sie sah, wie seine Kiefer arbeiteten. »Lass uns jetzt nicht mehr über Brockhard reden«, bat sie. »Erzähl mir lieber eine Geschichte.«
Sie strich ihm über die Wange und er seufzte schwer. »Welche willst du hören?«
»Egal.«
Die Geschichten. Damit hatte er ihre Aufmerksamkeit im Krankenhaus geweckt. Sie waren so anders als die Geschichten der anderen Soldaten. Urias’ Geschichten erzählten von Mut, Kameradschaft und Hoffnung. Wie die von dem Iltis, der auf dem Brustkorb seines schlafenden Kameraden gekauert hatte, bereit, ihm die Kehle durchzubeißen. Es waren fast zehn Meter bis dort und der Bunker war mit seinen dunklen Erdwänden beinahe kohlrabenschwarz gewesen. Doch er hatte keine Wahl gehabt, sein Gewehr ans Kinn gerissen und gefeuert, bis das Magazin leer war. Den Iltis hatten sie am nächstenTag zu Mittag gegessen. Es waren viele solcher Geschichten gewesen. Helena erinnerte sich nicht an alle, doch sie wusste noch, dass sie begonnen hatte zuzuhören. Seine Geschichten waren lebendig und amüsant, und bei einigen wusste sie nicht, ob sie ihm glauben sollte oder nicht. Sie wollte es aber gerne, denn sie waren wie ein Gegengift gegen die anderen Geschichten über die aussichtslosen Schicksale und den sinnlosen Tod.
Während der verdunkelte Zug sich langsam auf neu verlegten Schienen durch die Nacht bewegte, erzählte Urias von dem einen Mal, als er einen russischen Heckenschützen im Niemandsland erschossen und dem atheistischen Bolschewiken anschließend ein christliches Begräbnis mit Psalmgesang und allem, was dazugehörte, hatte zuteil werden lassen.
»Ich konnte hören, dass sie drüben auf der russischen Seite applaudierten«, erzählte Urias, »so schön habe ich an diesem Abend gesungen.«
»Wirklich?«, lachte sie.
»Schöner, als du es jemals in der Staatsoper
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