Rotkehlchen
Dann sah Helena zu ihm hinüber. Seine Augen strahlten, so dass sie glaubte, die Wärme seines Blickes auf der Haut zu spüren, und sie senkte ihre Augen und betrachtete seinen braunen, frisch rasierten Hals, den Kragen mit dem Zeichen der SS auf der schwarzen gebügelten Uniform, die im Zug noch so verknittert gewesen war. In den Händen hielt er einen Strauß Rosen. Sie wusste, dass Beatrice ihm bereits angeboten hatte, sie in eine Vase zu stellen, doch er hatte dankend abgelehnt, damit Helena sie zuerst sehen konnte.
Sie stieg eine Stufe weiter hinunter. Ihre Hand ruhte leicht auf dem Geländer. Es ging jetzt einfacher. Sie hob ihren Kopf, umschloss alle drei mit ihrem Blick und erkannte mit einem Mal, dass dies auf merkwürdige Weise der schönste Augenblick in ihrem Leben war. Denn sie wusste, was sie sahen, und spiegelte sich darin.
Die Mutter sah sich selbst, ihren eigenen verlorenen Traum undihre Jugend, Beatrice sah das Mädchen, das sie wie ihre eigene Tochter erzogen hatte, und er sah die Frau, die er so voller Inbrunst liebte, dass es sich nicht einmal durch gute Manieren und skandinavische Scheu verbergen ließ.
»Du bist wunderschön«, formte Beatrice mit den Lippen. Helena zwinkerte ihr zu. Dann war sie unten.
»Du hast also auch im Dunkeln den Weg gefunden?«, sagte sie lächelnd zu Urias.
»Ja«, erwiderte er laut und klar, und in dem mit Steinplatten ausgelegten hohen Raum hallte seine Antwort wie in einer Kirche wider.
Die Mutter sprach mit ihrer scharfen, leicht schrillen Stimme, während Beatrice wie ein freundliches Gespenst in das Speisezimmer schwebte und entschwand. Helena konnte ihren Blick nicht von der Brillantkette losreißen, die ihre Mutter um den Hals trug, ihr kostbarster Schmuck, der nur zu ganz besonderen Anlässen herausgeholt wurde.
Man hatte eine Ausnahme gemacht und die Tür zum Garten einen Spaltbreit offen gelassen. Die Wolken hingen so tief, dass ihnen die Bomben in dieser Nacht vielleicht erspart bleiben würden. Die Zugluft, die durch die Tür hereinströmte, ließ die Kerzen flackern, und die Schatten tanzten über die Porträts der ernst dreinblickenden Männer und Frauen mit Namen Lang.
Die Mutter hatte ihm ausführlich erklärt, wer die Abgebildeten waren und aus welchen Familien ihre Ehegatten stammten. Urias hatte ihr mit einem, wie Helena meinte, kleinen sarkastischen Lächeln zugehört, doch das war in dem Halbdunkel nur schlecht zu erkennen gewesen. Mutter hatte gesagt, dass sie sich verpflichtet fühle, jetzt im Krieg Strom zu sparen. Natürlich erwähnte sie mit keinem Wort ihre neue wirtschaftliche Situation und auch nicht, dass Beatrice die Letzte des ehemals vierköpfigen Personals war.
Urias legte die Gabel zur Seite und räusperte sich. Die Mutter hatte sich ans eine Ende des langen Esstisches gesetzt. Die Jungen saßen einander gegenüber, während Helena am anderen Ende Platz genommen hatte.
»Das war wirklich köstlich, Frau Lang.«
Es war ein einfaches Essen gewesen. Nicht so einfach, dass es beleidigend wirkte, doch sicher auch nicht so außerordentlich, dass er sich als Ehrengast hätte fühlen können.
»Das war Beatrice«, sagte Helena eifrig. »Sie macht die besten Wiener Schnitzel von ganz Österreich. Haben Sie es anderswo schon einmal gegessen?«
»Nur ein einziges Mal, glaube ich. Und das war ganz sicher nicht so gut wie dieses hier.«
»Das, was Sie gegessen haben, war sicher Schweinefleisch. Hier im Haus verwenden wir aber nur Kalbfleisch. Oder, falls es das nicht gibt, Kapaun«, erklärte die Mutter.
»Ich kann mich an kein Fleisch erinnern«, sagte er und lächelte. »Ich glaube, das waren vor allem Eier und Semmelbrösel.«
Helena lachte leise und bekam von ihrer Mutter einen raschen Blick zugeworfen.
Das Gespräch hatte während des Essens immer wieder gestockt, doch nach den langen Pausen hatte Urias ebenso oft das Wort ergriffen wie die Mutter oder Helena. Noch ehe sie ihn zum Essen eingeladen hatte, hatte Helena beschlossen, dass sie sich nicht darum kümmern würde, was ihre Mutter meinte. Urias war höflich, doch er war ein Mann, der von einfachen Bauern abstammte; ihm fehlten das Raffinement und die feinen Manieren, die so typisch für eine Erziehung in einem großbürgerlichen Haus waren. Aber es gab kaum Grund, sich Sorgen zu machen. Helena war sogar ziemlich überrascht, wie leicht und weltgewandt Urias sich gab.
»Sie haben sicher vor, nach Ende des Krieges zu arbeiten?«, erkundigte sich die Mutter und
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