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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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meinte Meirik.
    »Der Terrorist und der Amateur werden sich darüber einig, dass der Terrorist einen teuren Waffenkauf finanziert und danach alle Verbindungen abbricht. Dann gibt es keine Spur, die sich zum Terroristen zurückverfolgen lässt. So hat er einen Prozess in Gang gesetzt, ohne selbst ein Risiko einzugehen, von den Kosten einmal abgesehen.«
    »Aber was, wenn der Amateur doch nicht in der Lage ist, den Auftrag auszuführen?«, fragte Ovesen. »Oder stattdessen die Waffe weiterverkauft und sich mit dem Geld aus dem Staub macht?«
    »Das ist natürlich möglich. Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass der Auftraggeber diesen Amateur für sehr motiviert hält. Vielleicht hat er auch ein persönliches Motiv, so dass er bereit ist, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um den Auftrag durchzuführen.«
    »Amüsante Hypothese«, fand Ovesen. »Und wie willst du die überprüfen?«
    »Das geht nicht. Ich rede von einem Menschen, von dem wir nichts wissen. Wir wissen nicht, wie er denkt, und nicht einmal, ob er rational handelt.«
    »Na prima«, sagte Meirik. »Gibt es noch andere Theorien, warum diese Waffe in Norwegen gelandet sein kann?«
    »Haufenweise«, erwiderte Harry. »Aber das ist die übelste.«
    »Jaja«, seufzte Meirik. »Schließlich ist es unser Job, Gespenster zu jagen. Wir sollten also versuchen, mit diesem Hochner zu reden. Ich werde mal telefonieren und … oh.«
    Wright hatte den Schalter gefunden und der Raum war plötzlich in weißes, grelles Licht getaucht.
     
    Sommerresidenz der Familie Lang, Wien, 25. Juni 1944
     
    31 Helena stand im Schlafzimmer und betrachtete sich selbst im Spiegel. Am liebsten hätte sie das Fenster geöffnet, damit sie die Schritte auf dem Kiesweg, der zum Haus führte, hören konnte, doch ihre Mutter nahm es mit der Verdunklung sehr genau. Sie sah auf das Bild ihres Vaters, das auf dem Toilettentischchen vor dem Spiegel stand. Immer wieder fiel ihr auf, wie jung und unschuldig er auf diesem Bild aussah.
    Sie hatte sich die Haare wie üblich mit einer einfachen Spange hochgesteckt. Sollte sie sie anders tragen? Beatrice hatte Mutters rotes Musselinkleid umgenäht, so dass es zu Helenas schlanker, lang gestreckter Figur passte. In diesem Kleid war die Mutter dem Vater einst begegnet. Der Gedanke war absonderlich, fern und tat doch irgendwie weh. Vielleicht empfand Helena das so, weil ihre Mutter, wenn sie über diese Zeit sprach, immer wie über zwei vollkommen andere Menschen redete – zwei schöne, glückliche Menschen, die glaubten, auf dem richtigen Weg zu sein.
    Helena löste die Spange und schwang ihren Kopf hin und her, so dass ihr die braunen Haare über das Gesicht fielen. Die Türglocke klingelte. Sie hörte Beatrice’ Schritte unten in der Halle. Helena ließ sich nach hinten auf das Bett fallen, es kribbelte in ihrem Bauch. Sie konnte es nicht ändern – es war, als sei sie wieder vierzehn und bis über die Ohren in eine Sommerbekanntschaft verschossen! Sie hörte gedämpfte Stimmen von unten, Mutters scharfe, nasale Stimme und das Klirren der Kleiderbügel, als Beatrice den Mantel an die Garderobe hängte. Mantel!, dachte Helena. Er hatte einen Mantel angezogen,obgleich es einer dieser schwülen, stickigen Sommerabende war, die sonst erst immer im August kamen.
    Sie wartete angespannt, dann hörte sie ihre Mutter rufen: »Helena!«
    Sie stand vom Bett auf, steckte ihre Haare wieder auf, betrachtete ihre Hände und sagte ein paarmal hintereinander zu sich selbst: Ich habe keine großen Hände, ich habe keine großen Hände. Dann warf sie einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild – sie war hübsch! –, holte zitternd Luft und trat durch die Tür.
    »Hele …«
    Mutters Ruf verstummte plötzlich, als Helena oben auf der Treppe zum Vorschein kam. Vorsichtig setzte sie ihren Fuß auf die oberste Treppenstufe; auf den hohen Absätzen, mit denen sie sonst die Treppe hinunterrannte, fühlte sie sich mit einem Mal unsicher und wackelig.
    »Dein Gast ist gekommen«, sagte die Mutter.
    Dein Gast. Unter anderen Umständen hätte sich Helena vielleicht davon irritieren lassen, wie ihre Mutter betonte, dass sie diesen ausländischen einfachen Soldaten nicht als Gast des Hauses betrachtete. Doch es herrschten besondere Zeiten, und Helena hätte ihre Mutter dafür küssen können, dass sie es ihnen nicht noch schwieriger machte.
    Helena sah zu Beatrice hinüber. Die alte Haushaltshilfe lächelte, doch sie hatte den gleichen melancholischen Blick wie die Mutter.

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