Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
die Sonne, gelb wie Bauschaum, später dann grau. Es begann zu regnen und hörte wieder auf. Schließlich wurde es dunkel. Sie stand am Rand einer viel befahrenen Straße, hinter ihr der Fluss, links ein Park. Es roch nach feuchtem Rasen und Grillfleisch. Ihr Magen gab beunruhigende Geräusche von sich. Plötzlich wusste sie, wo sie war, Puschkinallee, Treptower Park. Vor ihr lag das sowjetische Ehrenmal. Sie durchschritt den Triumphbogen aus grauem Stein und ging über die von Hängebirken gesäumte Allee zwischen den haushohen, stilisierten Fahnen aus rotem Granit hindurch, die sich wie riesige Haiflossen in den Nachthimmel reckten. Dann passierte sie das Gräberfeld, das die Gebeine von siebentausend gefallenen Soldaten der Roten Armee barg, die bei der Befreiung Berlins vom Faschismus ums Leben gekommen waren. Forss musste an die Worte des ehemaligen MfS-Majors denken. An seine These von der RAF als zu spät gekommener deutscher Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die RAF als Echo der Geschichte. Am Ende des Gräberfelds erklomm sie den Hügel, auf dem die fünfzehn Meter hohe Bronzestatue eines sowjetischen Soldaten stand. In der einen Hand hielt er schützend ein kleines Kind, mit der anderen zerteilte er mit einem mächtigen Schwert das Hakenkreuz zu seinen Füßen. Forss setzte sich auf die oberste Treppenstufe des Denkmals. Ein Schwert habe ich auch, dachte sie. Sie holte die schwere Glock aus der Handtasche. Schloss die Augen. Sie konnte die feuchten Birken riechen und das geölte Metall der Waffe. Sie presste das kühle Eisen auf ihr glühendes Gesicht. Wie gut das tat. Der Schrei kam plötzlich und ganz tief aus ihrem Inneren. Sie stand auf und schoss das gesamte Magazin leer. In den dickbäuchigen, giftigen, deutschen Himmel über ihr.
23
Das Wartezimmer wirkte freundlich und hell, Ingrid und Anders Nyström hatten es ganz für sich alleine. Sie nahmen auf bequemen Korbstühlen Platz, deren Polster mit safranfarbenem Stoff bezogen waren. Kurz musste sie an die Hefebrötchen denken, die sie zu Weihnachten immer backte, die hatten die gleiche Farbe, was natürlich an der wichtigsten Zutat, dem Safran, lag. Dann war der Gedanke wieder weg, bis Weihnachten war es noch lange hin, und wer wusste schon, ob sie das nächste Weihnachtsfest überhaupt erleben würde. Anders drückte ihre Hand, zum wohl zwanzigsten Mal an diesem Tag, vielleicht auch noch öfter, eigentlich hatte er nur während der Autofahrt davon abgesehen, und das auch nur, weil sie ihn dazu ermahnt hatte, beide Hände ans Steuer zu nehmen. Es reicht ja, wenn einer von uns stirbt, hatte sie gedacht, aber sie hatte es zum Glück nicht ausgesprochen.
»Danke«, sagte Anders jetzt. »Danke, dass du sofort mit mir darüber gesprochen hast.«
Er sah sie lange an.
»Das bedeutet mir viel«, sagte er. »Das ist doch schließlich das Wichtigste in einer Ehe. Dass man Vertrauen hat. Dass man über alles reden kann.«
»Ja«, sagte sie. »Ja.«
Für einen Moment war sie versucht, über ihr Zögern zu sprechen. Über ihr wochenlanges Unvermögen, das Gespräch mit ihm zu suchen. Über ihre Angst, dass er sie und ihre Krankheit zurückweisen würde. Über ihre Furcht, dass der Knoten in ihrer Brust, dass die Art und Weise der Entstehung dieses Knotens mit Anders’ Glauben kollidieren könne.
»Alles wird gut werden«, sagte Anders. »Alles wird gut werden, wenn wir uns Gott anvertrauen.«
Sie sagte lange nichts. Ihre Gedanken waren nicht bei Gott.
»Dieser Fall hat mir sehr zugesetzt«, sagte sie schließlich. Sie fühlte in sich hinein. Eigentlich waren dies nicht der Zeitpunkt und der Ort, um über ihre Arbeit zu sprechen. Hier und jetzt sollte es um etwas anderes gehen. Um sie. Um ihre Brust. Um ihr Leben. Aber trotzdem spürte sie den Drang zu erzählen. Vielleicht weil es noch etwas gab, das sie noch nicht loslassen konnte. Sie sah zur Tür des Untersuchungszimmers. Vielleicht würde es bald nötig sein. Das Loslassen-Können.
»Genau, der Fall«, sagte Anders. »Hat dieser Verrückte tatsächlich mit einem Kreuz auf seine Opfer eingeschlagen?«
»Nein, ganz so blasphemisch war es dann doch nicht, da kann ich dich beruhigen. In der Hinsicht hatte sich Ann-Vivika getäuscht. Es war der Griff einer Harpune, der diese Doppelabdrücke hinterlassen hatte.«
»Und was ist eigentlich aus diesen beiden verschwundenen Deutschen geworden? Dem Mörder und seinem Verfolger?«
»Die Leichname wurden am nächsten Morgen gefunden«, sagte sie.
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