Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
lange nicht. Der wahre Todesengel saß hier, gleich neben ihm, und massierte seine Hand.
»Das ist Wahnsinn. Das kann ich nicht zulassen«, sagte er schließlich.
Sie lächelte noch immer.
»Was hast du denn für eine Wahl?«, fragte sie.
19
Aus der Ferne näherten sich Sirenen.
»Ich schlage vor, wir beeilen uns hier wegzukommen«, sagte Leonidas.
»Wer ist diese Frau, die Zeuner schützen will, die Anführerin der Märtyrer ?«
Leonidas rappelte sich auf. Wieder musterten seine wachen, kleinen Augen Forss lange.
»Früher hieß sie Helena Luks. Wie sie jetzt heißt, weiß niemand. Ich habe sie als klug und berechnend in Erinnerung. Radikal und kämpferisch. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie sich in ernsthafter Gefahr befindet. Sie ist der Typ Frau, der sehr gut auf sich selbst achtgeben kann.« Er verzog seine dünnen Lippen zu einem Lächeln. »Ein bisschen so wie Sie, scheint mir.«
Er klopfte seinen Anzug ab, knöpfte das Jackett zu, um sein blutfleckiges Hemd so gut es ging zu verbergen, und klaubte seinen altmodischen Hut vom Boden, der bei Forss’ Attacke hinuntergefallen und in eine Ecke des Zimmers gerollt war. Bevor er ihn aufsetzte, lupfte er ihn grüßend in ihre Richtung. Dann trat der alte Kalte Krieger durch die Tür zurück in den Schatten, aus dem er eine halbe Stunde zuvor gekommen war. Forss stand da, noch immer die Waffe in der Hand. Die Sirenen waren jetzt ganz nah. Sie ging in die Küche, steckte die schwere Glock in ihre Handtasche und verließ ebenfalls die Wohnung.
20
»Die Hundertschaft hat das ganze Gebiet zweimal durchkämmt. Ohne Erfolg. Beide Männer sind wie vom Erdboden verschluckt.«
Nyström sah Welch abschätzend an. Im Laufe des Nachmittags hatte der hagere Reichskrim-Mann einiges von seiner großspurigen Art verloren.
»Wurden denn wenigstens weitere Spuren gefunden?«
»Ja. Aber die verlieren sich auf einem Waldweg, der einige Kilometer nordöstlich von hier liegt. Da wurde eine größere Menge Blut gefunden, möglicherweise Reifenspuren. Die können aber von jedem x-beliebigen Forstfahrzeug stammen. Vage Zeugenaussagen. Ein Spaziergänger hat angeblich einen dunklen Geländewagen in der Nähe gesehen. Nichts Handfestes, eine Menge Schreibtisch- und Laborarbeit. Viel interessanter ist jedoch etwas anderes. Dieser Zeuner scheint ein ehemaliger Stasi-Major zu sein. Außerdem wurden in seiner Berliner Wohnung ganz frische Blutspuren entdeckt.«
»Seltsam«, sagte Nyström. Sie dachte sofort an Stina Forss. Was, wenn der jungen Frau etwas passiert war? Ihr Magen verkrampfte sich.
»Ich muss mal dringend ein privates Gespräch führen«, sagte sie.
»Wir brechen hier sowieso bald ab. Die Straßensperren haben nichts gebracht und die landesweite Fahndung ist raus. Wenn es tatsächlich ein politischer Fall ist, sind jetzt die Säpo-Leute in der Pflicht.«
Er streckte ihr die Hand hin.
»Vielen Dank für deine Hilfe!«
»Keine Ursache.«
»Einer der Hubschrauber bringt dich zurück nach Växjö.« Er verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. »Der Steuerzahler bedankt sich.«
21
Forss konnte Nyström am Telefon beruhigen. Sie tauschten ihre Informationen aus. Vieles schien ineinanderzupassen: Eine linksterroristische Gruppe begeht einen Banküberfall und erschießt dabei eine Angestellte. Wenig später tauchen die sogenannten Märtyrer Zelle 719 in der DDR unter. Kurz vor dem Zusammenbruch des Systems fliehen sie nach Schweden und bauen sich dort zum zweiten Mal in kurzer Zeit neue bürgerliche Existenzen auf, werden Lehrer, Briefträger, leiten Werbeagenturen. Ein Mitglied der Gruppe kehrt sogar nach Deutschland zurück, heiratet, führt einen Biobauernhof. Ein Vierteljahrhundert später erkennt Johannes Breuer, der Ehemann der erschossenen Bankangestellten, der gleichzeitig Zeuge des Überfalls gewesen war, eine der Täterinnen wieder. Er plant einen grausamen Rachefeldzug und beginnt damit, ihn durchzuführen. Er foltert die Bäuerin Marlene Schwitters, die unter falschem Namen in Norddeutschland lebt, zu Tode und presst die Namen und Aufenthaltsorte ihrer ehemaligen Weggefährten aus ihr heraus. Sein zweites Opfer ist Janus Dahlin, der in Växjö ermordet wird. Nun wird ein ehemaliger MfS-Major, der Ende der Achtzigerjahre mit den RAF-Aussteigern betraut gewesen war, auf die Mordserie aufmerksam. Er unterrichtet seinen Kollegen von damals, MfS-Offizier Kurt Zeuner. Zeuner ist aufgebracht. Er hatte eine stürmische Affäre mit der Anführerin der
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