Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
entscheidenden Punkt.«
»Und der wäre?«
»Kurt Zeuner ist nicht der Mörder von Dahlin und den drei anderen ermordeten Wackersdorfern. Im Gegenteil: Als wir beide begriffen, was vor sich ging, als wir verstanden, dass die Märtyrer starben, ist Kurt nach Schweden gefahren, um die anderen zu warnen.«
»Die Märtyrer?«
»So haben sie sich damals genannt, als sie in den Untergrund gingen. Märtyrer Zelle 719 . Solche Namen waren en vogue in diesen Kreisen. Vorher gab es zum Beispiel schon die Gruppe Märtyrer Halimeh und ähnliche.«
»Warum Zelle 719 ?«
»Das war die Nummer der Zelle in Stammheim, in der sich Ulrike Meinhof 1977 das Leben genommen hat.«
»Ulrike Meinhof?«
»Ja.«
»Und wer tötete die Märtyrer, wenn es nicht Zeuner war?«
Leonidas schnäubte roten Rotz in das Handtuch.
»Wo soll ich anfangen? Wir beim MfS hatten von Beginn an ein Auge auf die RAF. Meinhof war uns natürlich schon vorher wegen ihrer klugen politischen Analysen aufgefallen. Ob ihre Texte über die Wiederaufrüstung, Vietnam, Missstände in Kinderheimen: Sie war Ende der Sechzigerjahre die führende und einflussreichste linke Journalistin der BRD. Dass sie an der gewaltsamen Befreiung des Polit-Rowdys Andreas Baader teilnahm und in den Untergrund ging, war ein Paukenschlag, auch für uns. Teile der westdeutschen Linken begannen sich ernsthaft zu militarisieren. Tragisch, wie schnell die Bewegung dann in ein Wahnsystem abglitt. Das sinnlose Morden, die paranoiden Rechtfertigungen, eine elende Sackgasse. Die Attentate, die Rhetorik, es war, als führten sie mit ihrer Stadtguerillataktik einen Widerstandskampf gegen ein faschistisches Regime. Genau das war ja auch ihr verbissenes Selbstverständnis. Leider kam dieser Kampf 30 Jahre zu spät. Eine Kompensation für die unterlassene Auflehnung der Vätergeneration. Nur war die BRD – selbst aus unserer Perspektive – nicht das Deutsche Reich. Schmidt war nicht Hitler. Die RAF kam zu spät. Ein tragisches Echo der Geschichte.«
»Was sich die DDR zunutze gemacht hat.«
»Was sollten wir mit der Roten Armee Fraktion, wenn wir das Original hatten? Wir haben beobachtet, viel mehr war da nicht. Es gab vereinzelte Kontakte, Sondierungsgespräche. Natürlich ging es uns um Kontrolle, das geht es bei nachrichtendienstlicher Arbeit immer. Die Erfolge hielten sich allerdings in Grenzen. Überwiegend bestand die RAF aus einem Haufen abenteuerlustiger oder missverstandener Bürgerkinder, die für unsere Argumentationen nicht allzu offen waren.«
»Aber Sie haben den müden Klassenkämpfern ein Altersheim angeboten.«
»Warum nicht? Dadurch konnten sie wenigstens keinen Mist mehr bauen. Im Grunde haben wir der BRD dadurch einen Dienst erwiesen. Soziale Reintegration par exellence. Jedenfalls bis die Wende kam.«
»Was war Zeuners Rolle in dem Ganzen?«
»Wir beide waren für die Aussteiger der Märtyrer Zelle 719 verantwortlich, ihre staatsbürgerliche Einweisung, neue Identitäten im real existierenden Sozialismus, Wohnungen, Arbeitsplätze. Als sich 1989 das Ende von allem abzeichnete, hat sich Kurt Zeuner für ihre Flucht nach Schweden eingesetzt. Er hatte eine Liebesaffäre mit der Anführerin der Gruppe, deshalb hatte er wohl eine hohe, persönliche Motivation. Und die hat er, glaube ich, immer noch. Das ist der Grund, warum er sich vor einer Woche auf den Weg gemacht hat. Er will seine alte Liebe schützen.«
Leonidas atmete hörbar aus. Forss spürte, wie die Ungeduld in ihren Adern pochte.
»Wer ist der Mörder der Märtyrer?«
17
Kommissar Welch kam auf Nyström zu. An einem Ohr hatte er ein überdimensioniertes Funkgerät.
»Von den Fahrzeuginsassen fehlt weiterhin jede Spur. Aber wir haben den Halter des Wohnmobils ermittelt. Er heißt Johannes Breuer, 49 Jahre alt. Es gibt eine ganze Akte. Den deutschen Behörden zufolge hat er wohl lange Zeit wegen schwerer psychischer Probleme in verschiedenen Einrichtungen gelebt. Der gewaltsame Tod seiner Frau muss ihn völlig aus der Bahn geworfen haben. Er kommt aus irgendeiner Stadt im Harz.«
»Osterode«, sagte Nyström und sah dabei zu, wie ein Eichhörnchen in der Krone einer Kiefer verschwand. Im Schein der frühen Nachmittagssonne glänzte der Stamm wie nasse Bronze.
18
Zeuner hörte Helenas Ausführungen zu. Er begriff mehr und mehr, wie sehr er sich geirrt hatte. Der arme Breuer mochte in seinem Wahn der Märtyrer Zelle 719 zu wahren Märtyrerehren verholfen haben, aber zu einem Todesengel machte ihn das noch
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