Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
fünfzackigen Stern. Sie warf die Broschüre in den Papierkorb, der neben ihrem Stuhl stand. Dann stand sie auf und griff nach Anders’ Hand.
»Danke, dass du mit mir hier bist«, sagte sie.
MAI 1970, BERLIN (WEST)
Die Luft roch nach Frühling, nach Freiheit und auch ein wenig nach Abgasen. Helena fröstelte. Solange die Sonne geschienen hatte, war ihr warm gewesen, aber jetzt in der Abenddämmerung war sie in ihrer Bluse viel zu dünn angezogen. Sie ärgerte sich ein wenig darüber, dass sie ihren Pullover in dem Arrestraum hatte zurücklassen müssen, doch hätte sie das Kleidungsstück nicht in Streifen gerissen und zu einem provisorischen Lasso und Kletterseil umfunktioniert, wäre sie niemals aus dem hohen Fenster gelangt. Nun galt es zu überlegen, was als Nächstes zu tun war. In ihrer Hosentasche hatte sie ein Zweimarkstück, damit würde sie nicht allzu weit kommen, außerdem meldeten sich allmählich auch Hunger und Durst. Der Kurfürstendamm war ein einziges Lichtermeer, jede blinkende, leuchtende Reklame ein Versprechen. Aber um diese Versprechen einzulösen, brauchte man mehr als zwei Mark. Als sie es vor Kälte nicht mehr aushielt, schlüpfte sie in einer Seitenstraße in eine Gaststätte. Die Luft war verraucht und außer ihr waren nur Männer in dem düsteren Raum. Sie ging zielstrebig zum Tresen, setzte sich auf einen der Hocker und bestellte eine Cola. Der Wirt musterte sie skeptisch, fragte aber nicht nach ihrem Alter. Helena war fünfzehn, aber sie wusste, dass sie älter wirkte. Alt genug, um von Männern in Kneipen angesprochen zu werden. Alt genug, um für Geld Dinge zu tun. Sie wusste es, weil es schon passiert war, bei ihren früheren Versuchen abzuhauen. Weit war sie nie gekommen, aber weit genug, um zu verstehen, wie diese Männer funktionierten.
Der Kerl, der sich schließlich neben sie setzte, hatte einen Bauch und roch nach Alkohol. Er kaufte ihr ein Essen und eine weitere Cola, diesmal mit Schuss, wie er dem Wirt mit einem Zwinkern verdeutlichte. Nachdem sie gegessen und ausgetrunken hatte, ging sie mit dem Mann nach draußen. Auf einem unbeleuchteten Parkplatz stand sein Wagen, ein Opel. Er drückte sie auf die enge Rückbank, danach war er über ihr. Es tat weh und dauerte viel länger, als sie gehofft hatte. Als er endlich fertig war, wimmelte er sie schnell aus dem Auto und fuhr davon. Sie hatte sein Portemonnaie und seine Lederjacke. In der Geldbörse waren einhundertvierzehn Mark und dreiundzwanzig Pfennig. Ihre Scheide brannte. Da sie immer noch hungrig war, aß sie an einem Stand eine Bratwurst, danach kaufte sie sich Zigaretten. Dann dachte sie an die freundliche Journalistin. Sie hatte Helena ihre Adresse gegeben. Wenn du draußen bist und mal was ist, hatte sie gesagt. Jetzt war sie draußen. Und es war ja auch was, wenn man mal genau darüber nachdachte. Oder war es normal, wenn ein fünfzehnjähriges Mädchen, das gerade für ein Getränk und ein Essen Geschlechtsverkehr mit einem widerlichen Fremden gehabt hatte, ziellos durchs nächtliche Berlin streifte? Wohl kaum. Sie nahm sich zum ersten Mal in ihrem Leben ein Taxi, Geld hatte sie ja jetzt genug dabei. Auch der Taxifahrer sah sie misstrauisch an, aber nachdem sie ihm einen Zwanzigmarkschein hingelegt hatte, fuhr er los. Die Fahrt in die Kufsteinerstraße dauerte weniger als zehn Minuten. Sie hatte dem Fahrer viel zu viel bezahlt, aber er machte keine Anstalten, ihr etwas von dem Geld zurückzugeben. Das Augenpaar im Rückspiegel starrte sie an, bis sie ausstieg. Sie stand vor einem Haus aus der Gründerzeit, hoher Eingang, halbrunde Erker. Auf dem Klingelbrett suchte sie nach dem Namen.
Sie klingelte. Mit einem Summen sprang die Tür auf. Im Treppenhaus hallten ihre Schritte auf dem Steinfußboden. Die Journalistin stand in der Wohnungstür. Sie sah merkwürdig wachsam aus, wie ein Tiger, zum Sprung bereit.
Als sie das Mädchen erkannte, schien ein Teil der Spannung von ihr abzufallen.
»Mensch, du bist’s, Helena.«
Sie nahm die letzten Treppenstufen im Laufschritt, dann lag sie in den Armen der Frau. Erst jetzt merkte sie, dass sie weinte, das Revers der fremden Lederjacke war schon ganz nass.
»Alles ist gut«, sagte die Journalistin und wiegte sie, »jetzt ist alles gut.«
Später saßen sie in der Küche, die Frau hatte ihnen Tee gemacht. Sie stellte Helena keine Fragen, sie wartete, bis Helena so weit war, von sich aus zu erzählen. Und sie erzählte. Von der trinkenden Mutter, vom Heim, von den
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