Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Stunden im Arrest. Auch von dem Mann, der sie auf der Rückbank seines Autos gefickt hatte. Die Journalistin hörte ihr zu, streichelte ihre Hand, tröstete sie. Der kräftige Tee und ihre warmen Augen gaben Helena Halt und Geborgenheit. Und trotzdem spürte das Mädchen durch seinen Schmerz hindurch, dass von der Frau noch etwas anderes ausging, eine innere Anspannung, eine Unruhe.
»Ich störe, oder?«, fragte Helena irgendwann.
»Nein«, sagte die Frau, aber die Art, wie sie immer wieder auf die Uhr an der Wand gesehen hatte, meinte das Gegenteil.
»Es ist nur so ...«, begann sie schließlich. »Meine Kinder ...«
»Du hast Kinder?«
Jetzt huschte ein Lächeln über das Gesicht der Frau.
»Ja, zwei Mädchen.«
Natürlich. In der Küche lag Spielzeug, an den Schränken hingen gemalte Kinderbilder.
»Ich habe gerade viel zu erledigen, verstehst du? Es gibt Dinge zu tun, vorzubereiten. Ich ... plane einen großen Schritt. Etwas Wichtiges.«
»Ja«, sagte Helena, »das verstehe ich.«
Sie dachte an die langen Gespräche, die sie im Heim mit der Journalistin geführt hatte.
»Es geht um das ganze System, oder?«, fragte sie.
»Ja«, sagte die Frau. Sie war jetzt ganz ernst. »Es geht um das System. Und darum, wie man es ändert.«
Helena trank den Rest des Tees aus. Dann sah sie die Journalistin fest an.
»Ich habe lange darüber nachgedacht«, sagte sie. »Über Kapitalismus und das System und so. Das System ist genau wie das Heim. Es hat diese tausend Regeln, die dich fertigmachen. Es sperrt dich ein, es richtet dich ab, es bricht dich, bis du irgendwann vergessen hast, dass es draußen eine andere Möglichkeit gibt. Ein anderes Leben.«
Wieder lächelte die Frau.
»Du bist ein Engel«, sagte sie. »Du bist erst fünfzehn und du hast schon alles Wichtige im Leben begriffen.«
Stolz schwellte in Helenas Brust und auch ein bisschen Pathos.
»Ich will dieses andere, dieses bessere Leben. Für die Menschheit, für uns alle«, sagte sie ernst. »Notfalls hole ich es mir mit Gewalt.«
Sie stellte die leere Teetasse ab.
»Natürlich«, sagte die Frau und auch wenn ein feines Lächeln ihre Mundwinkel umspielte, war ihre Stimme frei von jedem Spott. Sie griff über den Tisch und strich dem Mädchen eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Eine liebevolle Geste. »Natürlich holst du es dir. Notfalls mit Gewalt.«
Wir danken folgenden Autoren für die anregende Lektüre:
Brigitta Almgren, Inte bara Stasi – relationer Sverige-DDR 1949–1990 , Stockholm: Carlsson (2009) & Inte bara spioner: Stasi-infiltration i Sverige under kalla kriget , Stockholm: Carlsson (2011).
Jutta Ditfurth, Ulrike Meinhof – Die Biografie , Berlin: Ullstein (2007).
Michael Müller & Andreas Kanonenberg, Die RAF-Stasi-Connection , Berlin: Rowohlt (1992).
Inge Viett, Nie war ich furchtloser – Biografie, Hamburg: Edition Nautilus (1996).
Willi Winkler, Die Geschichte der RAF , Berlin: Rowohlt (2007).
LESEPROBE
»SPÄTER FROST. DER ERSTE FALL FÜR INGRID NYSTRÖM UND STINA FORSS«
SCHWEDEN, HEUTE
1
Wie ein Raumschiff schwebte der Bahnhof von Växjö in der feuchten Kälte des späten Februarnachmittags. Scheinwerferkegel hoben das holzverkleidete Gebäude aus der Dämmerung, und nur eine Treppe aus Beton, die vom Bahnhofsvorplatz auf den Gleisübergang führte, schien den halb runden, ufoförmigen Bau am Abheben zu hindern. Vor der Treppe stand Stina Forss und sah über den unwirtlichen Bahnhofsvorplatz hinweg in eine menschenleere Fußgängerzone. Außer ihr waren lediglich drei andere Reisende dem Zug entstiegen, vermummte Gestalten, die schnell in verschiedene Richtungen verschwunden waren. Sie fror und vergrub ihre Hände tiefer in den Taschen ihres Lodenmantels.
Die zweitägige Zugreise von Berlin über Fehmarn durch Dänemark bis in die südschwedische Stadt Växjö war eine einzige Aneinanderreihung von Ärgernissen gewesen: Um den Fehmarnsund zwischen Deutschland und Dänemark zu überqueren, war der gesamte Zug auf eine Fähre gefahren, wo alle Passagiere hatten aussteigen müssen. Auf dem Deck war es viel zu kalt und zu windig gewesen, und sie war in den Duty-free-Shop gegangen, wo sie sich Parfüm und eine Flasche Wodka gekauft hatte. Alkohol war in Schweden teuer. Dann hatte sie einen Kaffee getrunken, einen Hotdog gegessen und war eingenickt. Als ein Lautsprecher plötzlich die Passagiere zurück in den Zug beordert hatte, war sie hochgeschreckt und zurück an ihren Platz geeilt. Ihre Handtasche,
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