Rotzig & Rotzig
Spitze des Felsens, dem nächtlichen Luftverkehr zur Warnung.
Ich holte das Seil mit dem Anker aus dem Kofferraum, stieg dem Toyota aufs Dach und begann, den Anker in immer Größer werdenden Kreisen zu schwingen. Als kein Zugewinn an Radius und Geschwindigkeit mehr zu erreichen war, zielte ich auf das rote Blinken da oben und warf. Traf beim ersten Mal. Hängte mich mit halbem, dann mit vollem Gewicht an das Seil. Es hielt.
Verdammt. Irgendwie wäre es mir nicht unrecht gewesen, hier zu scheitern, mich in mannhafter Resignation zur Aufgabe gezwungen zu sehen. Doch nein. Verdammt. Mir war danach, mich salopp aus sämtlichen Körperöffnungen auf einmal zu erleichtern.
Meinen dunkelgrauen Overall hatte ich schon an, die alten, wie angeboren sitzenden Motorradhandschuhe sowieso. Jetzt überprüfte ich noch mal meine auf verschiedene Taschen verteilte Ausrüstung, drückte sämtliche Klettverschlüsse dicht, doppelknotete die Schnürsenkel, rauchte eine, rauchte noch eine, wartete das Kommen, Passieren und Verstummen eines knurrenden Quads auf der anderen Seite des Felsens ab. Wie ein Springer auf dem Zehnmeterbrett oder, vielleicht passender, dem Dach der Startbahn Nord, zählte ich erst bis drei und griff dann ins Seil. Leyla beobachtete mich mit sorgenvollem Gesicht. „Du weißt, was du zu tun hast?“, fragte ich, und sei es nur, um noch ein bisschen mit ihr zu quatschen und ein wenig Zeit zu schinden.
„Ja, Kristof. Sobald du drüben bist, wickle ich das Seil auf, gehe zurück zur Cafebar und warte dort auf dich.“ Wir waren verabredet, hieß das. Ich habe immer gern etwas vor, für nachher. Gibt einem das schöne Gefühl, eine Zukunft zu haben.
„Dann kann ja nichts schiefgehen“, sagte ich und machte mich an den Aufstieg.
„Kristof.“
„Ja?“
„Wie kommst du da wieder raus? Ich meine, ohne Seil?“
Mit den Füßen voran, dachte ich, eingezippt in einen hübschen, wasserdichten, schwarzen Sack. „Mit viel Glück“, antwortete ich. Und aufwärts ging's. Als ich endlich oben ankam, hatte mein Keuchen einen Grad erreicht, der besorgniserregend wirkte, fast schon peinlich. Ich setzte mich schwerfällig auf den Betonsockel des Mastes, zog das komplette Seil hoch, ließ das Ende mit dem Anker zu Leyla hinunter und das andere zum Grundstück der Reiffs. Leyla hängte den Anker unter die Stoßstange des Toyotas, ich zog den Strick stramm und seilte mich dann auf der anderen Seite langsam ab. Dies war der Punkt ohne Wiederkehr - noch mal hoch würde ich es nicht schaffen. Eine seltsame Ruhe beschlich mich, jetzt, da mich der Gedanke des Kneifens nicht mehr zu beschäftigen brauchte. Eine Sorge weniger.
Anderthalb Meter über Grund stoppte ich, besah mir den Schnee zu meinen Füßen - unberührt - und pfiff. Verhalten, durch die Zähne, aber doch. Einen Apfel hatte Leyla zwar nicht da gehabt, doch dafür ein paar Möhren. Ich zog sie aus der Tasche, wedelte damit, pfiff erneut. Fritzi löste sich aus dem Schatten seines Unterstandes und kam mal kucken, was es hier zu pfeifen und zu wedeln gab.
Das frei herumstreunende Pony war ein gewohnter Anblick, seine Spuren im Schnee unverdächtig, ein auf seinen breiten Rücken geschmiegter Mann so gut wie unsichtbar. Hoffte ich.
Es brauchte ein bisschen Geduld, das dickfellige Pony in die richtige Position zu bugsieren, doch es gelang. Nachdem er die Möhren geräuschvoll intus hatte, trottete Fritzi zurück zu seinem Verschlag und nahm mich klaglos mit sich.
So leise ich vermochte, glitt ich vom Pony, klopfte ihm kurz auf den Hintern und kreuzte dann die kurze freie Fläche bis zum Haus aufrecht und wie selbstverständlich. Ich bog um eine Ecke und stand unter dem Fenster des Zimmers von Yves und Sean. Natürlich hatte ich es nach meiner Inspektion des Raums wieder geschlossen, doch dabei, gleichsam vorausschauend, den Drehgriff senkrecht gelassen. Ein Stups mit dem Finger, und beide Flügel schwangen auf.
Die Bügelsäge lag nicht mehr an ihrem Platz auf dem Fensterbrett, doch ich hatte Ersatz mitgebracht. Fünf Minuten später hatte ich einen weiteren Gitterstab durchgesägt und hochgebogen. Ich zog mich hoch, rein ins Zimmer, rollte über das Bett ab, sprang auf die Füße und schloss das Fenster.
Ich war drin. Drin. Diese Barriere genommen zu haben, gibt einem immer wieder einen Kick. Bevor man sich daran erinnert, dass damit der strafbare Teil des Abends einsetzt.
Ich hockte mich auf das Bett unterm Fenster, sah auf die Uhr, lauschte den Geräuschen
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