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Rousseau's Bekenntnisse

Rousseau's Bekenntnisse

Titel: Rousseau's Bekenntnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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selbst wenn ich wieder Lust dazu verspüren sollte. Man hätte fest darauf wetten können, daß er mich der Gefahr aussetzte, im Elend umzukommen oder ein Taugenichts zu werden. Das faßte er nicht ins Auge. Er sah nichts als eine der Ketzerei entrissene und der Kirche wiedergegebene Seele. Was kümmerte es ihn, ob ich ein ehrlicher Mensch oder ein Taugenichts wurde, wenn ich nur in die Messe ging? Man darf übrigens nicht glauben, daß diese Denkweise nur den Katholiken eigenthümlich sei; sie wird von jeder Dogmenreligion getheilt, die den Glauben über das Thun stellt.
    »Gott beruft Sie,« sagte Herr von Pontverre zu mir. »Gehen Sie nach Annecy; dort werden Sie eine gute und sehr mildthätige Dame finden, welche die Wohlthaten des Königs in den Stand setzen, andere Seelen aus dem Irrthume zu reißen, den sie selbst abgelegt hat.« Es handelte sich um Frau von Warens, eine Neubekehrte, welcher die Priester in der That den Zwang auferlegten, eine ihr von dem Könige von Sardinien ausgesetzte Pension von zweitausend Francs mit dem Pack zu theilen, welches seinen Glauben zu verkaufen kam. Ich fühlte mich sehr gedemüthigt, eine gute und sehr mildthätige Dame nöthig zu haben. Ich sah es gern, wenn man mir gab, was ich gebrauchte, aber Almosen wollte ich nicht, und eine Frömmlerin war für mich nicht sehr anziehend. Allein von Herrn von Pontverre angetrieben, vom Hunger gepeinigt, auch sehr froh darüber, eine Reise zu machen und endlich einen bestimmten Zweck zu haben, entschließe ich mich, wenn auch ungern, dazu und breche nach Annecy auf. Ich konnte den Weg dorthin leicht in einem Tage zurücklegen, aber ich eilte nicht, ich verwandte darauf drei. Ich sah kein Schloß zur Rechten oder zur Linken, ohne mich vor ihm nach dem Abenteuer umzusehen, von dem ich überzeugt war, daß es mich dort erwartete. Da ich sehr schüchtern war, wagte ich nicht in das Schloß einzutreten oder anzuklopfen; aber ich sang unter dem Fenster, wo ich am ehesten bemerkt zu werden hoffte, und war, wenn ich meine Lunge lange angestrengt hatte, sehr erstaunt, weder Damen noch Fräulein erscheinen zu sehen, die die Schönheit meiner Stimme oder der Witz meiner Lieder herbeigezogen hätte, was um so auffallender war, da ich doch bewunderungswürdige wußte, die ich von meinen Kameraden gelernt hatte und bewunderungswürdig sang.
    Endlich lange ich an; ich sehe Frau von Warens. Diese Epoche meines Lebens hat über meinen Charakter entschieden. Ich kann mich nicht entschließen, leicht darüber hinwegzugehen. Ich war in meinem sechszehnten Jahre. Ohne das zu sein, was man einen hübschen Jungen nennt, war ich von schönem Wuchse, ich hatte einen hübschen Fuß, ein feines Bein, ein offenes Wesen, belebte Züge, einen niedlichen Mund, [Fußnote: Var ... einen niedlichen Mund mit häßlichen Zähnen.] schwarze Augenbrauen und Haare, kleine und sogar tiefliegende Augen, die aber das Feuer, von dem mein Blut entzündet war, wiederstrahlten. Unglücklicherweise wußte ich nichts von dem allen, und mein Leben lang bin ich nie auf den Einfall gerathen, an mein Aeußeres zu denken, als bis es nicht mehr an der Zeit war, Vortheil daraus zu ziehen. Eben so hatte ich außer der Schüchternheit meines Alters noch die einer sich nach Liebe sehnenden Natur, die sich in steter Angst befand, zu mißfallen. Außerdem fehlten mir, da ich bei aller geistigen Tüchtigkeit die Welt nie gesehen hatte, völlig alle Umgangsformen; meine Kenntnisse boten dafür nicht nur keinen Ersatz, sondern dienten nur dazu, mich noch mehr einzuschüchtern, da sie mir meinen Mangel erst recht fühlbar machten.
    Da ich also besorgte, daß meine erste Vorstellung nicht zu meinen Gunsten ausfallen würde, suchte ich mich auf andere Weise in ein vortheilhaftes Licht zu setzen und schrieb einen schönen Brief im Kanzelstile, in dem ich unter Zusammenhäufung von Bücherphrasen und Lehrlingsausdrücken meine ganze Beredsamkeit entfaltete, um mir das Wohlwollen der Frau von Warens zu erwerben. Ich legte den Brief des Herrn von Pontverre in den meinigen ein und machte mich zu der schrecklichen Audienz auf den Weg. Ich traf Frau von Warens nicht an; man sagte mir, sie wäre eben zur Kirche gegangen. Es war der Palmsonntag des Jahres 1728. Ich laufe um ihr zu folgen: Ich sehe sie, ich hole sie ein, ich rede sie an. Unaufhörlich schweifen meine Gedanken zu dieser Stelle hinüber, die ich seitdem oft mit meinen Thränen genetzt und mit meinen Küssen bedeckt habe. O daß ich diese

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