Rousseau's Bekenntnisse
vernünftig sein wollten, würden wir selten nöthig haben, unsere Kraft zusammen zu nehmen. Aber leicht zu überwindende Triebe reißen uns widerstandslos fort; wir geben leichten Versuchungen nach, deren Gefahr wir verachten. Unmerklich gerathen wir in gefährliche Lagen, vor denen wir uns leicht hätten hüten können, denen wir uns aber ohne heldenmüthige Anstrengungen, vor denen wir zurückbeben, nicht mehr entreißen können, und wir sinken endlich in den Abgrund, indem wir Gott zur Entschuldigung sagen: Weshalb hast du mich so schwach gemacht? Aber uns zum Trotze antwortet er unserm Gewissen: Ich habe dich zu schwach gemacht, dich aus dem Abgrunde wieder herauszuarbeiten, weil ich dich stark genug gemacht habe, nicht hineinzustürzen.
Ich war zwar nicht gerade fest entschlossen, katholisch zu werden, aber da ich den Zeitpunkt noch in weiter Ferne sah, erhielt ich Zeit, mich mit diesem Gedanken zu befreunden, und inzwischen rechnete ich auf irgend ein unvorhergesehenes Ereignis, welches mich aus der Verlegenheit ziehen würde. Um Zeit zu gewinnen, beschloß ich, mich bestmöglichst zu vertheidigen. Bald überhob mich meine Eitelkeit, meines Entschlusses eingedenk zu sein, und sobald ich bemerkte, daß ich meine Bekehrer in Verlegenheit versetzte, war dies für mich ein genügender Antrieb, um den Versuch zu ihrer völligen Besiegung zu machen. Ich verwendete sogar auf dieses Unternehmen einen höchst lächerlichen Eifer, denn während sie an mir arbeiteten, wollte ich an ihnen arbeiten. Ich wähnte in meiner Einfalt, daß ich sie nur zu überzeugen brauchte, um sie zu bestimmen, Protestanten zu werden.
Sie fanden folglich in mir keine so leichte Auffassung, wie sie erwartet hatten, weder hinsichtlich meines Verstandes noch meines guten Willens. Die Protestanten sind im Allgemeinen besser unterrichtet als die Katholiken. Das kann nicht anders sein; die Lehre der einen erheischt Erörterung, die der andern Unterwerfung. Der Katholik muß die Entscheidung, welche man ihm gibt, annehmen, der Protestant muß sich selbst entscheiden lernen. Wußte man dies auch, so erwartete man doch bei meiner Lage und bei meinem Alter keine großen Schwierigkeiten für geübte Leute. Außerdem war ich noch nicht zum Abendmahle zugelassen und hatte nicht einmal den vorbereitenden Unterricht dazu empfangen: auch dies wußte man. Allein man wußte nicht, daß ich dafür von Herrn Lambercier sehr gut unterrichtet worden war und daß in meinem Kopfe ein für diese Herrn sehr unbequemer Schatz an Kenntnissen in der Kirchen- und Reichsgeschichte aufgespeichert lag, die ich bei meinem Vater fast auswendig gelernt und seitdem beinahe vergessen hatte, deren ich mich jedoch, je hitziger der Streit wurde, desto mehr wieder entsann.
Ein alter, trotz seiner Kleinheit ziemlich ehrwürdiger Priester hatte mit uns gemeinschaftlich die erste Besprechung. Für meine Genossen war diese Besprechung eher ein in Frage und Antwort gekleideter Unterricht als ein wirklicher Austausch der Gedanken, und er hatte mehr mit ihrer Belehrung als mit der Beseitigung ihrer Einwendungen zu thun. Bei mir war dies nicht der Fall. Als die Reihe an mich kam, hielt ich ihn bei allem auf; ich ersparte ihm keine Schwierigkeit, die ich ihm irgend machen konnte. Hierdurch wurde die Besprechung sehr in die Länge gezogen und für die Anwesenden sehr langweilig. Mein alter Priester sprach viel, erhitzte sich, schweifte ab und zog sich durch die Erklärung aus der Sache, daß er nicht gut französisch verstände. Damit meine Genossen nicht an meinen unbedachten Einwendungen Anstoß fänden, wurde ich am folgenden Tage einem andern Priester in einem besonderen Zimmer überwiesen. Derselbe war jünger, ein Schönredner, das heißt ein Phrasenmacher, und von einer Selbstzufriedenheit, wie sie nur je ein Gelehrter hatte. Trotzdem wirkte sein hoheitsvolles Auftreten keineswegs sehr überwältigend auf mich, und da ich mich ihm gewachsen fühlte, antwortete ich ihm ziemlich zuversichtlich und griff ihn, so gut ich konnte, bald von dieser bald von jener Seite an. Er glaubte mich mit dem heiligen Augustin, dem heiligen Gregor und den andern Kirchenvätern zum Schweigen bringen zu können und fand zu seinem unaussprechlichen Erstaunen, daß ich alle diese Väter fast mit derselben Leichtigkeit anzuwenden wußte wie er. Hatte ich sie auch eben so wenig gelesen wie er vielleicht, so hatte ich doch viele Stellen derselben aus meiner Kirchengeschichte von Le Sueur behalten, und sobald er
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