Rousseau's Bekenntnisse
in der ich mich befand.
Früh am andern Morgen versammelte man uns abermals zum Unterrichte, und nun fing ich zum ersten Male an, über den Schritt, den ich zu thun im Begriff stand, wie über die Veranlassungen, die mich dazu getrieben hatten, nachzudenken.
Ich habe gesagt, und ich wiederhole und werde vielleicht diesen Umstand, von dessen Wahrheit ich mich täglich mehr durchdrungen fühle, noch öfter wiederholen, daß, wenn je ein Kind eine vernünftige und gesunde Erziehung erhielt, ich es war. Aus einer Familie hervorgegangen, die sich durch Sittlichkeit vor der großen Menge auszeichnete, hatten mich alle meine Verwandten nur zur Züchtigkeit angehalten und mir das beste Beispiel gegeben. Obgleich mein Vater vergnügungslustig war, zeichnete er sich nicht allein durch erprobte Rechtlichkeit, sondern auch durch einen echt religiösen Sinn aus. In der Welt ein Lebemann und in seinem Innern ein Christ, hatte er mir früh die Gesinnungen, von denen er erfüllt war, eingeflößt. Von meinen drei Tanten, die sämmtlich für kluge und tugendhafte Frauenzimmer galten, waren die beiden ältesten fromme und die dritte, ein Mädchen nicht allein voller Anmuth, sondern auch voller Geist und Verstand, war es vielleicht noch mehr, ließ sie es auch äußerlich weniger durchschimmern. Aus dem Schooße dieser achtbaren Familie kam ich zu Herrn Lambercier, der, wenn auch ein Diener der Kirche und Prediger, trotzdem im Innern gläubig war, und dessen Handlungen fast ganz mit seinen Werten in Einklang standen. Seine Schwester und er entwickelten die Grundsätze der Frömmigkeit, die sie in meinem Herzen fanden, durch freundlichen und verständigen Unterricht. Diese würdigen Menschen wandten hierzu so richtige, so kluge, so vernünftige Mittel an, daß ich, weit davon entfernt mich in der Predigt zu langweilen, nie von derselben zurückkehrte, ohne innerlich ergriffen zu sein und gute Vorsätze zu einem rechtschaffenen Lebenswandel zu fassen, gegen die ich auch, so lange ich ihrer eingedenk blieb, selten verstieß. In die Frömmigkeit meiner Tante Bernard konnte ich mich weniger finden, weil sie ein förmliches Geschäft damit trieb. Ueber die Frömmigkeit meines Meisters machte ich mir keine Gedanken mehr, ohne jedoch eine andere Meinung gewonnen zu haben. Ich traf nicht mit jungen Leuten zusammen, die mich hätten verderben können. Ich wurde ein Gassenbube, aber nicht liederlich.
Ich besaß also so viel Religion, als ein Kind in meinem Alter haben konnte. Ich besaß sogar mehr, denn weshalb hier meine Gedanken verhehlen? Meine Kindheit war nicht die eines Kindes; ich fühlte, ich dachte beständig wie ein Mann. Erst beim Heranwachsen trat ich in die gewöhnliche Klasse zurück, aus der ich bei meiner Geburt herausgetreten war. Man wird lachen, wenn man sieht, wie ich mich bescheidener Weise für ein Wunderkind ausgebe. Möge es sein; wenn man sich aber ausgelacht hat, möge man mir ein Kind suchen, welches sich in einem Alter von sechs Jahren von Romanen in dem Grade anziehen, fesseln, fortreißen läßt, daß es heiße Thränen vergießt; dann will ich die Lächerlichkeit meiner Eitelkeit einsehen und einräumen, daß ich Unrecht habe.
Wenn ich gesagt habe, man dürfte mit Kindern nicht von Religion sprechen, falls man wollte, daß sie dereinst Religion hätten, und wenn ich die Behauptung aufgestellt habe, sie wären unfähig, Gott auf unsere Weise zu erkennen, so habe ich diese Ansicht aus meinen Beobachtungen, nicht aus meiner Erfahrung, gewonnen; ich wußte, daß letztere für andere nichts bewiese. Findet mir lauter sechsjährige Jean Jacques Rousseaus und redet mit ihnen dann dreist in ihrem siebenten Jahre von Gott; ich bürge euch dafür, daß ihr keine Gefahr dabei lauft.
Einem jeden wird, wie ich glaube, das Gefühl sagen, daß »Religion haben« für ein Kind und selbst für einen Mann nichts anderes bedeutet, als sich zu der Religion seines Geburtslandes bekennen. Man wird den Glaubensinhalt bisweilen beschränken, selten erweitern. Der Glaube an das Dogma ist die Frucht der Erziehung. Außer diesem allgemeinen Grunde, der mich zum Anhänger der Religion meiner Väter machte, empfand ich jenen meiner Vaterstadt eigenthümlichen [Fußnote: Var ... jenen meiner Vaterstadt damals eigenthümlichen Abscheu ... (Es läßt sich annehmen, daß dieses damals in der Abschrift des Manuscripts wirklich stand und erst von den Genfer Herausgebern gestrichen ist.)] Abscheu gegen den Katholicismus, den man uns als einen
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