Rubinrot
abzulenken. Das war nett von ihr, aber warum tat sie das? Und wie sollte ich unbemerkt an ihnen vorbeikommen?
Die Schmetterlinge in meinem Magen wurden zu flatternden Vögeln und das Bild des sich küssenden Paares vor meinen Augen verschwamm. Und dann stand ich auf einmal im Klassenzimmer der Sechsten und war mit den Nerven völlig am Ende.
Alles blieb still.
Ich hatte wegen meines plötzlichen Auftauchens mit einem Aufschrei aus vielerlei Schülerkehlen gerechnet und damit, dass möglicherweise jemand - Mrs Counter? - vor Schreck in Ohnmacht fallen würde.
Aber das Klassenzimmer war leer. Ich stöhnte vor Erleichterung. Wenigstens hatte ich dieses eine Mal Glück gehabt. Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken und legte meinen Kopf auf das Pult. Was geschehen war, überschritt für den Moment mein Fassungsvermögen. Das Mädchen, der hübsche junge Mann, der Kuss ...
Das Mädchen hatte nicht nur so ausgesehen wie ich.
Das Mädchen
war
ich.
Es war kein Irrtum möglich. Ich hatte mich selber unzweifelhaft an dem halbmondförmigen Muttermal an der Schläfe erkannt, das Tante Glenda immer meine »komische Banane« nannte.
So viel Ähnlichkeit konnte es gar nicht geben.
Opal und Bernstein das erste Paar,
Achat singt in B, der Wolf-Avatar,
Duett - Solutio! - mit Aquamarin.
Es folgen machtvoll Smaragd und Citrin,
die Zwillings-Karneole im Skorpion,
und Jade, Nummer acht, Digestion.
In E-Dur: schwarzer Turmalin,
Saphir in F, wie hell er schien.
Und fast zugleich der Diamant,
als elf und sieben, der Löwe erkannt.
Projectio! Die Zeit ist im Fluss,
Rubin bildet den Anfang und auch den Schluss.
Aus den Geheimschriften des Grafen von Saint Germain
6.
Nein. Das konnte ich nicht gewesen sein.
Ich hatte noch nie einen Jungen geküsst.
Naja, oder so gut wie nie. Auf jeden Fall nicht
so.
Da war dieser Mortimer aus der Klasse über uns, mit dem ich im letzten Sommer exakt zwei Wochen und einen halben Tag gegangen war. Weniger, weil ich in ihn verliebt gewesen war, sondern mehr, weil er der beste Freund von Leslies damaligem Freund Max war und es irgendwie so gut gepasst hatte. Aber mit Küssen hatte Mortimer es nicht so gehabt, er war vielmehr ganz scharf darauf gewesen, mir Knutschflecken auf dem Hals zu machen, während er quasi als Ablenkungsmanöver versuchte, die Hand unter mein T-Shirt zu schieben. Ich hatte bei dreißig Grad im Schatten mit Halstüchern herumlaufen müssen und war eigentlich immer nur damit beschäftigt gewesen, Mortimers Hände (vor allem im dunklen Kino wuchsen ihm immer noch mindestens drei zusätzliche) wegzuschieben. Nach zwei Wochen hatten wir unsere »Beziehung« dann im gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst. Ich war Mortimer »zu unreif« und Mortimer war mir zu . . . Ähm . . . anhänglich.
Außer ihm hatte ich nur noch Gordon geküsst, auf der Klassenfahrt zur Isle of Wight. Aber das zählte nicht, weil es a) ein Teil von einem Spiel namens
Wahrheit oder Kuss
gewesen war (ich hatte die Wahrheit gesagt, aber Gordon hatte darauf bestanden, dass es eine Lüge gewesen sei) und b) gar kein richtiger Kuss war. Gordon hatte noch nicht mal seinen Kaugummi aus dem Mund genommen.
Bis auf die »Knutschflecken-Affäre« (wie Leslie das nannte) und Gordons Pfefferminz-Kuss war ich also vollkommen ungeküsst. Möglicherweise auch »unreif«, wie Mortimer behauptete. Ich war spät dran, mit sechzehneinhalb, das wusste ich, aber Leslie, die immerhin ein Jahr lang mit Max zusammengeblieben war, meinte, dass Küssen im Allgemeinen überschätzt würde. Sie sagte, möglicherweise habe sie ja nur Pech gehabt, aber die Jungs, die sie bisher geküsst hätte, hätten den Dreh definitiv nicht rausgehabt. Es müsse, sagte Leslie, eigentlich ein Schulfach namens »Küssen« geben, am besten anstelle von Religion, das brauchte eh kein Mensch.
Wir redeten ziemlich oft darüber, wie der absolute Kuss zu sein hatte, und es gab eine Menge Filme, die wir uns nur deshalb immer wieder anschauten, weil es darin so schöne Kussszenen gab.
»Ah, Miss Gwendolyn. Belieben Sie heute mit mir zu sprechen oder wollen Sie mich wieder einmal ignorieren?« James sah mich aus dem Klassenzimmer der Sechsten treten und kam näher.
»Wie spät ist es?« Ich sah mich suchend nach Leslie um.
»Bin ich vielleicht eine Standuhr?« James guckte empört. »So gut müssten Sie mich doch kennen, um zu wissen, dass Zeit für mich keine Rolle spielt.«
»Wie wahr.« Ich ging um die Ecke, um einen Blick auf die große
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