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Rubinrot

Rubinrot

Titel: Rubinrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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eines heulenden Mädchens, um genau zu sein. Zu meinem Schrecken kam sie genau in dieses Zimmer gelaufen. Und der Mann hinterher. Ich konnte ihre flackernden Schatten durch den Vorhang sehen.
    Ach, das war ja klar gewesen! Von all den Räumen hier oben mussten sie sich ausgerechnet meinen aussuchen.
    »Lass mich in Ruhe«, sagte die Mädchenstimme.
    »Ich
kann
dich nicht in Ruhe lassen«, sagte der Mann. »Immer wenn ich dich allein lasse, machst du irgendwas Unüberlegtes.«
    »Geh weg!«, wiederholte das Mädchen.
    »Nein, das werde ich nicht tun. Hör zu, es tut mir leid, dass das passiert ist. Ich hätte es nicht zulassen dürfen.« »Hast du aber! Weil du nur Augen für
sie
hattest.« Der Mann lachte leise. »Du bist ja eifersüchtig.« »Das hättest du wohl gerne!«
    Na toll! Ein streitendes Liebespärchen! Das konnte dauern. Ich würde hinter diesem Vorhang versauern, bis ich zurückspränge und unverhofft in Mrs Counters Unterricht vor der Fensterbank stünde. Vielleicht könnte ich Mrs Counter erzählen, ich hätte bei einem physikalischen Experiment mitgemacht. Oder ich wäre die ganze Zeit da gewesen und sie hätte mich nur nicht bemerkt.
    »Der Graf wird sich fragen, wo wir abgeblieben sind«, sagte die Männerstimme.
    »Soll er doch seinen transsilvanischen Seelenbruder auf die Suche schicken, dein Graf. In Wahrheit ist er noch nicht einmal ein Graf. Sein Titel ist genauso falsch wie die rosigen Wangen dieser .. . wie hieß sie noch gleich?« Das Mädchen schnaubte beim Sprechen zornig durch die Nase.
    Irgendwoher kam mir das bekannt vor. Sehr bekannt. Ganz vorsichtig spähte ich hinter dem Vorhang hervor. Die beiden standen direkt vor der Tür und zeigten mir ihr Profil. Das Mädchen war wirklich ein Mädchen und es trug ein fantastisches Kleid aus nachtblauer Seide und besticktem Brokat, mit einem Rock, so weit, dass man damit wohl nur schwer durch eine normale Tür gehen konnte. Sie hatte schneeweiße Haare, die zu einem seltsamen Berg auf ihrem Kopf getürmt waren und von dort in Locken wieder zurück auf die Schultern fielen. Das konnte nur eine Perücke sein. Auch der Mann hatte weiße Haare, die im Nacken mit einem Band zusammengehalten wurden. Trotz der Senioren-Haarfarbe sahen beide sehr jung aus, außerdem sehr hübsch, vor allem der Mann. Eigentlich war er mehr ein Junge, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Und er sah atemberaubend gut aus. Perfektes männliches Profil, würde ich sagen. Ich konnte mich kaum satt daran sehen. Ich lehnte mich viel weiter aus meinem Versteck, als ich eigentlich wollte.
    »Ich habe ihren Namen schon wieder vergessen«, sagte der Junge immer noch lachend.
    »Lügner!«
    »Der Graf kann nichts für Rakoczys Verhalten«, sagte der Junge, nun wieder ganz ernst. »Er wird ihn mit Sicherheit dafür bestrafen. Du musst den Grafen nicht mögen, du musst ihn nur respektieren.«
    Wieder schnaubte das Mädchen verächtlich durch die Nase und wieder hatte ich das Gefühl seltsamer Vertrautheit. »Ich
muss
gar nichts«, sagte sie und drehte sich abrupt zum Fenster. Das heißt, sie drehte sich zu mir. Ich wollte hinter den Vorhang abtauchen, aber ich erstarrte mitten in der Bewegung.
    Das war nicht möglich!
    Das Mädchen hatte
mein
Gesicht. Ich schaute in meine eigenen erschrockenen Augen!
    Das Mädchen schien genauso verblüfft wie ich, aber sie erholte sich schneller von ihrem Schreck. Sie machte eine eindeutige Handbewegung.
    Versteck dich! Verschwinde!
    Ich schob meinen Kopf schwer atmend wieder hinter den Vorhang. Wer war das? So viel Ähnlichkeit konnte es doch gar nicht geben. Ich
musste
einfach noch einmal hinschauen.
    »Was war das?«, hörte ich die Stimme des Jungen.
    »Nichts!«, sagte das Mädchen. War das etwa auch
meine
Stimme?
    »Am Fenster.«
    »Da ist nichts!«
    »Es könnte jemand hinter dem Vorhang stehen und uns be-lau. . .« Der Satz endete in einem überraschten Laut. Plötzlich herrschte Schweigen. Was war denn jetzt wieder passiert?
    Ohne nachzudenken, schob ich den Vorhang zur Seite. Das Mädchen, das aussah wie ich, hatte ihre Lippen auf den Mund des Jungen gepresst. Zuerst ließ er sich das ganz passiv gefallen, dann legte er seine Arme um ihre Taille und zog sie enger an sich heran. Das Mädchen schloss die Augen.
    In meinem Magen tanzten auf einmal Schmetterlinge. Es war seltsam, sich selber beim Küssen zuzuschauen. Ich fand, dass ich das ziemlich gut machte. Mir war klar, dass das Mädchen den Jungen nur küsste, um ihn von mir

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