Rubinrot
langen dunklen Gängen und einer Fackel immer Ratten! Hässliche schwarze Ratten, deren Augen im Dunkeln leuchteten. Oder tote Ratten. Ach ja, und Spinnen. Spinnen gehörten eigentlich auch dazu. Ich bemühte mich, die Wände nicht zu berühren und mir nicht vorzustellen, wie sich dicke Spinnen am Saum meines Kleides festklammerten und langsam darunterkrochen, um an meinen nackten Beinen nach oben zu klettern . . .
Stattdessen zählte ich die Schritte bis zu jeder Biegung. Nach vierundvierzig Schritten ging es nach rechts, nach fünfundfünfzig nach links, dann noch einmal links und wir erreichten eine Wendeltreppe, die aufwärtsführte. Ich raffte meinen Rock, so hoch ich konnte, um mit Gideon Schritt halten zu können. Irgendwo da oben gab es Licht und es wurde immer heller, je höher wir hinaufstiegen, bis wir schließlich in einem breiten Gang standen, der von vielen Fackeln an der Wand erleuchtet wurde.
Am Ende des Ganges befand sich eine breite Tür, links und rechts davon zwei Ritterrüstungen, genauso rostig wie zu unserer Zeit.
Ratten sah ich glücklicherweise keine, trotzdem hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden, und je näher wir der Tür kamen, desto stärker wurde dieses Gefühl. Ich sah mich um, aber der Gang war leer.
Als eine der Ritterrüstungen plötzlich ihren Arm bewegte und uns eine gefährlich aussehende Lanze (oder was auch immer das war) entgegenhielt, blieb ich wie angewurzelt stehen und schnappte nach Luft. Jetzt wusste ich, wer uns beobachtet hatte.
Vollkommen überflüssigerweise sagte die Rüstung auch noch mit blecherner Stimme: »Halt!«
Ich wollte schreien vor Schreck, aber wieder einmal kam kein Ton aus meinem Mund. Immerhin begriff ich ziemlich schnell, dass nicht die Ritterrüstung sich bewegt und gesprochen hatte, sondern der Mensch, der darin steckte. Auch die andere Rüstung schien bewohnt zu sein.
»Wir müssen mit dem Meister sprechen«, sagte Gideon. »In einer dringenden Angelegenheit.«
»Parole«, sagte die zweite Ritterrüstung.
»Qua redit nescitis«, sagte Gideon.
Ach ja, richtig. Für einen Moment war ich ehrlich beeindruckt. Er hatte es sich tatsächlich gemerkt.
»Ihr könnt passieren«, sagte die erste Ritterrüstung und hielt uns sogar die Tür auf.
Dahinter erstreckte sich ein weiterer Gang, auch dieser von Fackeln erhellt. Gideon klemmte unsere Fackel in einen Halter an der Wand und eilte weiter vorwärts, ich folgte ihm, so schnell ich das mit meinem Reifrock konnte. Mittlerweile war ich ein wenig außer Atem.
»Das ist ja wie in einem Gruselfilm. Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Ich dachte, die Dinger sind Dekoration! Ich meine, Ritterrüstungen sind ja sicher nicht gerade modern im 18. Jahrhundert, oder? Und auch nicht wirklich nützlich, denke ich.«
»Die Wachen tragen sie aus Tradition«, sagte Gideon. »Das ist in unserer Zeit nicht anders.«
»Ich habe aber in unserer Zeit keinen Ritter in Rüstung gesehen.« Aber dann fiel mir ein, dass ich vielleicht doch welche gesehen hatte. Ich hatte nur geglaubt, es handele sich um Rüstungen ohne Ritter.
»Beeil dich mal ein bisschen«, sagte Gideon.
Er hatte leicht reden, er hatte schließlich keinen Rock von der Größe eines Einmannzeltes mit sich herumzuschleppen.
»Wer ist
der Meister?«
»Der Orden hat einen Großmeister, der ihm vorsitzt. In dieser Zeit ist das natürlich der Graf selber. Der Orden ist ja noch jung, es ist erst siebenunddreißig Jahre her, dass der Graf ihn gegründet hat. Auch später übernahmen oft Mitglieder der Familie de Villiers den Vorsitz.«
Hieß das, der Graf von Saint Germain war ein Mitglied der Familie de Villiers? Warum hieß er denn dann Saint Germain?
»Und heute? Ähm, ich meine, in
unserer
Zeit? Wer ist da Großmeister?«
»Im Augenblick ist es mein Onkel Falk«, sagte Gideon. »Er hat deinen Großvater, Lord Montrose, abgelöst.«
»Tatsächlich.« Mein lieber, stets gut gelaunter Großvater als Großmeister der Geheimloge des Grafen von Saint Germain! Und da hatte ich immer gedacht, er stünde vollkommen unter dem Pantoffel meiner Großmutter.
»Welchen Posten bekleidet Lady Arista denn im Orden?«
»Gar keinen. Frauen können nicht Mitglied der Loge werden. Die engsten Familienangehörigen der Mitglieder des Hochgradkreises zählen zwar automatisch zum Äußeren Kreis der Eingeweihten, aber sie haben nichts zu sagen.«
War ja klar.
Vielleicht war seine Art, mich zu behandeln, bei den de Villiers angeboren? So eine Art genetischer
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