Rubinrot
Umgang mit dem Chronografen lautet, dass das Kontinuum niemals unterbrochen werden darf. Würden wir den Chronografen mit uns in die Zukunft nehmen, wären der Graf und die Zeitreisenden, die nach ihm geboren werden, gezwungen, ohne ihn auszukommen.«
»Ja, aber es könnte ihn auch keiner klauen.«
Gideon schüttelte den Kopf. »Man merkt, dass du dich bisher wenig mit der Natur der Zeit auseinandergesetzt hast. Es gibt Ereignisketten, die zu unterbrechen sehr gefährlich wäre. Im schlimmsten Fall würdest du möglicherweise gar nicht mehr geboren werden.«
»Verstehe«, log ich.
In der Zwischenzeit waren wir im ersten Stockwerk angelangt, vorbei an zwei weiteren mit Degen bewaffneten Männern, mit denen der Gelbe einen kurzen, geflüsterten Wortwechsel hatte. Wie war diese Parole noch mal? Mir fiel nur
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ein. Ich musste mir unbedingt ein anderes Gehirn zulegen.
Die beiden Männer schauten Gideon und mich mit unverhohlener Neugier an, und kaum waren wir vorbei, flüsterten sie wieder miteinander. Ich hätte nur zu gern gehört, was sie sagten.
Der Gelbe klopfte gegen eine Tür. Drinnen saß ein weiterer Mann an einem Schreibtisch, auch er mit Perücke - einer blonden - und farbenfroher Kleidung. Oberhalb der Schreibtischplatte wurde man von einem türkisfarbenen Gehrock und einer geblümten Weste geblendet, unter dem Tisch lachten einem rote Kniehosen und gestreifte Strümpfe entgegen. Ich wunderte mich schon gar nicht mehr.
»Herr Sekretär«, sagte der Gelbe. »Hier ist wieder der Besucher von gestern und wieder kennt er die Parole . . .«
Der Sekretär schaute Gideon ungläubig ins Gesicht. »Wie könnt Ihr die Parole kennen, wo wir sie doch erst vor zwei Stunden ausgegeben haben und niemand seither das Haus verlassen hat? Alle Eingänge sind streng bewacht. Und wer ist sie? Frauen haben hier keinen Zutritt.«
Ich wollte höflich meinen Namen nennen, aber Gideon griff nach meinem Arm und unterbrach mich. »Wir müssen mit dem Grafen sprechen. In einer dringenden Angelegenheit. Es ist sehr eilig.«
»Sie kamen von
unten«,
sagte der Gelbe.
»Aber der Graf ist nicht im Haus«, sagte der Sekretär. Er war aufgesprungen und rang die Hände. »Wir könnten einen Boten schicken . . .«
»Nein, wir müssen ihn persönlich sprechen. Wir haben nicht die Zeit, Boten hin- und herzuschicken. Wo hält der Graf sich in diesem Augenblick auf?«
»Er ist zu Gast bei Lord Brompton in seinem neuen Haus in der Wigmore Street. Eine Unterredung von größter Wichtigkeit, die er unmittelbar nach Eurem Besuch gestern einberufen hat.«
Gideon fluchte leise. »Wir benötigen eine Kutsche, die uns in die Wigmore Street bringt. Sofort.«
»Das kann ich veranlassen«, sagte der Sekretär und nickte dem Gelben zu. »Übernimm das persönlich, Wilbour.«
»Aber - wird die Zeit nicht etwas knapp?«, fragte ich und dachte allein an den langen Weg zurück durch den modrigen Keller. »Bis wir
mit einer Kutsche
in die Wigmore Street gefahren sind . . .« In der Wigmore Street war die Praxis von unserem Zahnarzt. Die nächste U-Bahn-Station war Bond Street, Central Line. Aber von hier aus musste man mindestens einmal umsteigen. Wie gesagt mit der U-Bahn! Wie ewig man mit einer Kutsche unterwegs sein würde, mochte ich mir gar nicht vorstellen. »Vielleicht wäre es besser, wir kommen ein anderes Mal wieder?«
»Nein«, sagte Gideon und plötzlich lächelte er mich an. In seinem Gesicht stand etwas geschrieben, was ich nicht so recht deuten konnte. War das Abenteuerlust?
»Wir haben noch über zweieinhalb Stunden Zeit«, sagte er gut gelaunt. »Wir fahren in die Wigmore Street.«
Die Kutschfahrt durch London war aufregender als alles, was ich bisher erlebt hatte. Aus irgendeinem Grund hatte ich mir das autofreie London ganz beschaulich vorgestellt, auf der Straße flanierende Menschen mit Sonnenschirmen und Hüten, ab und an eine gemütlich dahinzockelnde Kutsche, kein Abgasgestank, keine rücksichtslos rasenden Taxis, die einen selbst dann noch überfahren wollten, wenn man bei Grün über einen Fußgängerüberweg lief.
Tatsächlich war es aber alles andere als beschaulich. Erstens regnete es. Und zweitens war der Verkehr auch ohne Autos und Busse extrem chaotisch: Kutschen und Karren aller Art drängten sich dicht an dicht, Pfützenwasser und Schlamm spritzten wild durch die Gegend. Es roch zwar nicht nach Abgasen, aber es lag auch kein guter Geruch über der Straße, ein wenig faulig und zudem nach
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