Rubinrot
Falten kamen auch durch die Puderschicht deutlich zutage. Das Alter verlieh ihm etwas Zerbrechliches, etwas, das mich beinahe mit Mitleid erfüllte.
Auf jeden Fall hatte ich mit einem Schlag keine Angst mehr. Das war nur ein alter Mann, älter als meine eigene Großmutter.
»Gwendolyn ist weder über die Motive ihrer Mutter informiert noch über die Ereignisse im Bilde, die zu dieser Situation geführt haben«, sagte Gideon. »Sie ist vollkommen ahnungslos.«
»Seltsam, sehr seltsam«, sagte der Graf, während er langsam einmal um mich herumging. »Wir sind uns tatsächlich noch niemals begegnet.«
Natürlich waren wir uns noch niemals begegnet, wie sollte das denn auch gehen?
»Aber du wärst nicht hier, wenn du nicht der Rubin wärst.
Rubinrot begabt mit der Magie des Raben, schließt G-Dur den Kreis, den zwölf gebildet haben.«
Er hatte seinen Rundgang beendet, stellte sich direkt vor mich und sah mir in die Augen. »Was ist deine Magie, Mädchen?«
. . . from shore to shore. Lord make the nations
see . . .
Ach! Was machte ich denn da? Das war doch nur ein alter Mann. Ich sollte ihn höflich und mit Respekt behandeln und ihn nicht anstarren wie ein paralysiertes Kaninchen eine Schlange.
»Ich weiß es nicht, Sir.«
»Was ist an dir besonders? Verrat es mir.«
Was war an mir besonders? Mal abgesehen von der Tatsache, dass ich seit zwei Tagen in die Vergangenheit reisen konnte? Auf einmal hatte ich wieder Tante Glendas Stimme im Ohr, wie sie sagte:
Gleich als Baby konnte man Charlotte ansehen, dass sie zu Höherem geboren wurde. Man kann sie mit euch gewöhnlichen Kindern gar nicht vergleichen.
»Ich glaube, an mir ist nichts besonders. Sir.«
Der Graf schnalzte mit der Zunge. »Möglicherweise hast du recht. Es ist schließlich nur ein Gedicht. Ein Gedicht zweifelhafter Herkunft.« Abrupt schien er das Interesse an mir zu verlieren und drehte sich zu Gideon um. »Mein lieber Sohn. Ich lese voller Bewunderung, was du bereits geleistet hast. Lancelot de Villiers in Belgien aufgespürt! William de Villiers, Cecilia Woodville - der bezaubernde Aquamarin - und die Zwillinge, die ich nie kennenlernte, sind ebenfalls abgehakt. Und stellt Euch vor, Lord Brompton, dieser Junge hat sogar Madame Jeanne d'Urfe, geborene Pontcarre, in Paris besucht und sie zu einer kleinen Blutspende überredet.«
»Sprecht Ihr von der Madame d'Urfe, der mein Vater seine Freundschaft mit der Pompadour und letztendlich auch mit Euch zu verdanken hat?«
»Eine andere kenne ich nicht«, sagte der Graf.
»Aber diese Madame d'Urfe ist seit zehn Jahren tot.«
»Seit sieben, um genau zu sein«, sagte der Graf. »Ich weilte zu dieser Zeit am Hofe des Markgrafen Karl Alexander von Ansbach. Ach, ich fühle mich mit Deutschland sehr verbunden. Das Interesse an der Freimaurerei und der Alchemie ist dort erfreulich groß. Wie man mir bereits vor vielen Jahren mitteilte, werde ich auch in Deutschland sterben.«
»Ihr lenkt nur ab«, sagte Lord Brompton. »Wie kann dieser junge Mann Madame d'Urfe in Paris besucht haben? Vor sieben Jahren war er doch selber noch ein Kind.«
»Aber Ihr denkt immer noch auf die falsche Weise, lieber Lord. Fragt Gideon,
wann
er das Vergnügen hatte, Madame d'Urfe bluten zu lassen.«
Der Lord sah Gideon fragend an.
»Im Mai 1759«, sagte Gideon.
Der Lord stieß ein schrilles Lachen aus. »Aber das ist unmöglich. Ihr seid selber kaum zwanzig Jahre alt.«
Auch der Graf lachte, es war ein vergnügtes Lachen. »1759. Sie hat mir nie davon erzählt, die alte Geheimniskrämerin.«
»Ihr weiltet zu dieser Zeit ebenfalls in Paris, aber ich hatte strenge Order, Euch nicht über den Weg zu laufen.«
»Wegen des Kontinuums, ich weiß.« Der Graf seufzte. »Manchmal hadere ich ein wenig mit meinen eigenen Gesetzen ... Aber zurück zur lieben Jeanne. Musstest du Gewalt anwenden? Sie ist bei mir nicht gerade sehr kooperativ gewesen.«
»Das hat sie mir erzählt«, sagte Gideon. »Und auch, wie Ihr ihr den Chronografen abgeschwatzt habt.«
»Abgeschwatzt! Sie wusste ja nicht mal, was für ein Kleinod sie da von ihrer Großmutter geerbt hatte. Der arme, geschundene Apparat lag ungenutzt und unerkannt in einer staubigen Kiste auf einem Dachboden herum. Früher oder später wäre er vollkommen vergessen gewesen. Ich habe ihn gerettet und seiner ursprünglichen Bedeutung zugeführt. Und dank der Genies, die meiner Loge in der Zukunft noch beitreten werden, ist er heute wieder funktionsfähig. Das grenzt an ein
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