Rubinrot
der Graf war hier derjenige, vor dem man sich in Acht nehmen musste, das stand auf jeden Fall fest. Aber deswegen brauchte ich mich noch lange nicht sicher zu fühlen.
»Das ist ja alles sehr unterhaltsam«, sagte Lord Brompton. Seine Doppelkinne bebten vor Vergnügen. »An Euch und Euren Begleitern sind gute Schauspieler verloren gegangen, ohne Zweifel. Wie mein Vater gesagt hat, könnt ihr mit Geschichten aufwarten, die einen verblüffen, mein lieber Graf von Saint Germain. Aber beweisen könnt Ihr leider nichts davon. Bis jetzt habt Ihr mir noch nicht ein einziges Kunststück vorgeführt.«
»Kunststück!«,
rief der Graf. »Oh, mein lieber Lord, Ihr seid eine zweifelnde Seele. Ich hätte längst die Geduld mit Euch verloren, wenn ich mich Eurem Vater - Gott habe ihn selig - gegenüber nicht verpflichtet fühlte. Und wenn mein Interesse an Eurem Geld und Eurem Einfluss nicht so groß wäre.«
Der Lord lachte ein wenig unbehaglich. »Ihr seid wenigstens ehrlich.«
»Die Alchemie kommt eben nicht ohne Gönnerschaft aus.« Der Graf drehte sich mit Schwung zu Rakoczy um. »Wir werden dem guten Lord wohl ein paar unserer
Kunststücke
vorführen müssen, Miro. Er gehört zu den Menschen, die nur glauben, was sie sehen. Aber zuerst muss ich mit meinem Urenkel ein paar Worte unter vier Augen sprechen und einen Brief an den Großmeister meiner Loge in der Zukunft aufsetzen.«
»Ihr könnt gern das Schreibkabinett nebenan dafür nutzen«, sagte der Lord und zeigte auf eine Tür hinter sich. »Und einer Vorführung sehe ich mit Spannung entgegen.«
»Komm, mein Sohn.« Der Graf nahm Gideons Arm. »Es gibt einiges, das ich dich noch fragen muss. Und einiges, das du wissen solltest.«
»Wir haben nur noch eine halbe Stunde«, sagte Gideon mit Blick auf die Taschenuhr, die mit einer goldenen Kette an seiner Weste befestigt war. »Dann sollten wir uns spätestens auf den Rückweg nach Temple machen.«
»Das wird reichen«, sagte der Graf. »Ich schreibe schnell und ich kann beides gleichzeitig: reden und schreiben.«
Gideon lachte kurz auf. Er schien den Grafen wirklich witzig zu finden und offensichtlich hatte er ganz vergessen, dass ich auch noch da war.
Ich räusperte mich. Schon halb an der Tür drehte er sich noch einmal zu mir um und hob fragend eine Augenbraue.
Ich gab meine Antwort ebenso stumm, denn laut konnte ich es ja wohl schlecht sagen.
Lass mich bloß nicht mit diesen Freaks allein.
Gideon zögerte.
»Sie würde nur stören«, sagte der Graf.
»Warte hier auf mich«, sagte Gideon unerwartet sanft.
»Der Lord und Miro werden ihr in der Zwischenzeit Gesellschaft leisten«, sagte der Graf. »Ihr könnt sie gerne ein wenig über die Zukunft ausfragen. Das ist eine einmalige Gelegenheit. Sie kommt aus dem 21. Jahrhundert, fragt sie nach den automatischen Zügen, die unter der Erde von London entlangbrausen werden. Oder nach silbernen Flugapparaten, die sich mit dem Gebrüll von tausend Löwen in die Lüfte erheben und das Meer in vielen Kilometern Höhe überqueren können.«
Der Lord lachte so sehr, dass ich jetzt ernstlich Sorge um seinen Stuhl hatte. Jede seiner gewaltigen Speckrollen war in Bewegung. »Sonst noch etwas?«
Ich wollte auf keinen Fall mit ihm und Rakoczy allein bleiben. Aber Gideon lächelte nur, obwohl ich ihm einen flehenden Blick zuwarf.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte er.
Aus den Annalen der Wächter 12.Juni 1948
Schwarzer Turmalin,
Paul de Villiers, kam heute wie verabredet aus dem Jahr 1992 zum Elapsieren in den Dokumentenraum. Aber diesmal war er in Begleitung eines rothaarigen Mädchens, das behauptete, Lucy Montrose zu heißen und die Enkeltochter unseres Adepten Lucas Montrose zu sein. Sie verfügte in jeder Hinsicht über eine fatale Ähnlichkeit mit Arista Bishop (Jadelinie, Observationsnummer 4). Wir führten die beiden in Lucas' Büro. Jetzt ist uns allen klar, dass Lucas wohl Arista einen Antrag machen wird und nicht Claudine Seymore, wie wir für ihn gehofft hätten. (Obwohl Arista die besseren Beine und eine wirklich gute Rückhand hat, das muss man schon sagen.) Sehr seltsam, Besuch von seinen Enkelkindern zu erhalten, bevor man überhaupt Kinder hat.
Bericht: Kenneth de Villiers, Innerer Kreis
12.
Als die Tür hinter Gideon und dem Grafen ins Schloss fiel, machte ich automatisch einen Schritt zurück.
»Ihr dürft Euch ruhig setzen«, sagte der Lord und zeigte auf einen der zierlichen Stühle. Rakoczy verzog seine Lippen. Sollte das etwa
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