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Rubinsteins Versteigerung

Rubinsteins Versteigerung

Titel: Rubinsteins Versteigerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Seligmann
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Ich meine, das sollte für uns Anlass sein, darüber nachzudenken, was sich seither in Deutschland geändert hat.«
    Sie sieht mich nicht mal an. Gestern hat sie mich noch angewinselt, jetzt existiere ich für sie nicht mehr. Stattdessen ergeht sie sich in tiefschürfenden historischen Betrachtungen. Du sollst fühlen, dass es mich noch gibt!
    »Der einzige Unterschied, den ich erkennen kann, ist eine deutliche Zunahme des Einflusses der NSDAP in der Regierung. Während vor dreißig Jahren lediglich der Kanzler dieser Partei angehörte, der Wirtschaftsminister hingegen parteilos war, sind gegenwärtig sowohl der Bundeskanzler als auch der Wirtschaftsminister – ehemalige Parteimitglieder.«
    Vereinzeltes Glucksen und Kichern vereinigt sich zu befreiendem, brüllendem Gelächter, sobald ich geendet habe. Einige wollen jetzt ebenfalls ihren Witz beweisen.
    »Der Führer konnte aber besser reden als der Kiesinger.«
    »Hitler war energischer.«
    »Lieber Schnauzbart als Dachsfrisur.«
    »Ich verbitte mir Ihre provozierenden Bemerkungen, Rubinstein.« Na also, jetzt musst du mich ansehen, dich mit mir auseinandersetzen. »Von den anderen, um es milde zu sagen, dummen Sprüchen ganz abgesehen. Ich möchte, dass wir unsere Diskussion sachlich führen.«
    Ich hebe die Hand. »Aller Verfolgung zum Trotz gab esdamals eine Opposition gegen Hitler. Dagegen kann man den Führer unserer heutigen Opposition, Herrn Scheel, kaum als Nazigegner bezeichnen – vor 30 Jahren war er es jedenfalls nicht.«
    Erneut branden Lachen, Schreien, Johlen in der Klasse hoch. Hilde stemmt ihre Hände auf das Pult und ruft, sobald der Lärm ein wenig abgeschwollen ist, mit heller Stimme, die ihr angestrengtes Bemühen um Selbstbeherrschung verrät: »Wie Sie wollen, Herrschaften. Ich habe Ihnen in meiner ersten Stunde einen Unterricht in Diskussionsform angeboten. Einige von Ihnen, wenn nicht sogar die Mehrheit, scheinen aufgrund fehlender Reife Provokation mit Diskussion verwechseln zu wollen. Ich bin durchaus bereit, herkömmlichen Deutschunterricht mit dem von Ihnen offenbar bevorzugten Rollenverhalten des bestimmenden Lehrers und der gehorchenden Schüler durchzuführen.«
    »Durchführen«. Um Gottes willen! Warum müssen die Deutschen, ob rechts oder links, ständig etwas »durchführen«?
    »Auf diese Weise begeben Sie sich freiwillig in die Rolle des Untertans. Da passt es ausgezeichnet, dass wir uns in der vergangenen Woche ausführlich mit dem Buch ›Der Untertan‹ von Heinrich Mann beschäftigt haben. Uns steht noch eine knappe Unterrichtsstunde zur Verfügung, die wir zu einer Extemporale nutzen werden. Bringen Sie also in den nächsten 40 Minuten Ihre Meinung zum Thema ›Aktuelle Bezüge zu Heinrich Manns Roman ‚Der Untertan‘‹ zu Papier.«
    Die Burschen gehorchen tatsächlich – sogar nach diesemTumult. Das ist nur in Deutschland möglich. Hilde hat recht, die perfekten Untertanen. Genau den Scheiß schmier ich ihr jetzt hin:
     
    Jonathan Rubinstein _____________13b
     
    Extemporale
    Aktuelle Bezüge zu Heinrich Manns Roman ›Der Untertan‹
     
    Die Aussagen des Romans ›Der Untertan‹ von Heinrich Mann sind heute ebenso aktuell wie vor fast sechzig Jahren. Der deutsche Mensch braucht aufgrund seiner Erziehung in Elternhaus und Schule allzeit klare Befehle, die er ohne Widerspruch stets zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten »durchführen« wird.
    Diese Aussage Manns wird in hundert Jahren ebenso stimmen wie heute. Der Grund: Wer von seinen Eltern und Lehrern zum Gehorchen dressiert wurde, wessen Wille gebrochen wurde, kann selber nur gehorchen oder befehlen. In diesem Sinne wird in Deutschland eine Generation nach der anderen zu »guten« Untertanen erzogen werden – ad infinitum.
     
    Ich gehe vor, lege das Blatt aufs Pult, drehe mich, ohne sie anzusehen, um, kehre zu meinem Platz zurück, setze mich, sehe sie schließlich an. Hilde liest konzentriert oder tut wenigstens so. Endlich hebt sie ihren Kopf und sagt mit normaler Stimme: »Sehr optimistisch sind Sie ja nicht, Rubinstein … Ich möchte Sie nach dem Unterricht kurz sprechen.«
    Verdammte Scheiße, sie ist doch eine Klassefrau, und ich Idiot habe alles vermasselt. Hosenspritzer, Wichser, Eunuch, Feigling.
     
    Als wir endlich allein sind, setzt sie sich neben mich. Mein Herz rast.
    »Jonathan, weshalb hast du das ganze Theater heute inszeniert? Willst du dich bei Pauls, Bauriedl und Konsorten beliebt machen?«
    »Die sollen mich mal. Ich wollte, dass

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