Rubinsteins Versteigerung
du mich ansiehst. Das hast du schließlich auch getan – nach meiner Wortmeldung.«
»Dir ist doch klar, dass du mit solchen Methoden meinen Unterricht kaputt machst?«
»Warum hast du mich nicht angesehen?«
»Weil mich das Geschehen gestern derart mitgenommen hat, dass ich vorläufig einer Begegnung mit dir ausweichen wollte.«
»So? Meinst du, dass unser Treffen mich nicht mitgenommen hat? Ich muss ständig daran denken, was für ein Trottel ich war, dass ich mich von deinen Appellen zur Vernunft habe blöd machen lassen.«
»Dafür muss ich dir danken.«
»Dafür? Weshalb denn?«
»Weil es zu endlosen Komplikationen geführt hätte, denen unsere Kräfte auf Dauer nicht gewachsen wären.«
»Meinst du, jetzt ist es weniger kompliziert?«
»Wenn wir uns beherrschen und vernünftig sind, ja!«
»Vernunft, Selbstbeherrschung – und du gibst den Leuten den ›Untertan‹ zu lesen!«
»Ich habe nicht die Kraft zu einem Verhältnis mit dir. Sage, ich bin feig oder eine Untertanenseele wie alle anderen Deutschen, aber ich kann das einfach nicht. Lieber lasse ich mich an eine andere Schule versetzen, als das Theater länger mitzumachen.«
»Theater?«
»Ja, verdammt noch mal! Theater, oder nenne es, wie du willst, ich kann es jedenfalls nicht verkraften. Darf ich dich daran erinnern, dass in unserer Beziehung die Lasten ungleich verteilt sind. Wenn unser Verhältnis bekannt würde, hättest du so gut wie nichts zu befürchten. Einen Schulwechsel im schlimmsten Fall. Ich dagegen würde meine Stellung verlieren, hätte wahrscheinlich ein Strafverfahren am Hals und würde als eine Geächtete dastehen.«
»Soso, eine Geächtete.«
»Ja, mach dich nur darüber lustig. Ich weiß, was du von unserer Gesellschaft hältst, du hast es gerade sehr prägnant niedergeschrieben. Wahrscheinlich hast du sogar recht. Sicher sogar! Aber ich lebe nun mal in diesem Land. Ich bin eine Deutsche, ob es mir passt, ob es dir passt oder nicht. Ich kann nicht wie du einfach nach Israel gehen und alles hinter mir lassen. Außerdem möchte ich bezweifeln, ob die israelische Gesellschaft ein Verhältnis zwischen Lehrerin und Schüler tolerieren würde.«
»Das wäre gar nicht nötig. Die jiddischen Mammes hätten dich zuvor längst gesteinigt.«
»Na also, deinen Humor hast du wenigstens nicht verloren.«
»Nein. Aber ich will mit dir zusammen sein.«
»Ich kann es nicht. Jetzt jedenfalls nicht. Du hast nurnoch wenige Monate bis zum Abitur. Dann können wir weitersehen. Jetzt nicht!«
»Ich brauche dich jetzt, nicht in einigen Monaten.«
»Jonathan, und wenn du mich totschlägst. Ich kann nicht, bitte versuche wenigstens mich zu verstehen.«
Ihr ganzes Gesicht, ihr Hals und Ausschnitt sind voller großer rosiger Flecken. Die Alte kann im Moment wirklich nicht, ich auch nicht, verdammt. Ich nehme meine Mappe, stehe auf und gehe aus dem Raum.
Vernunft, Disziplin, als Nächstenliebe getarnte Feigheit haben dich zum perfekten deutsch-jüdischen Untertan gemacht, Rubinstein. Spontane Lustanwandlungen werden augenblicklich unterdrückt. Ich habe es gerade nötig, mich über die deutschen Untertanen lustig zu machen.
UNVERDAULICH
Schabbatvormittag. Ich sitze auf einem Holzklappstuhl in der Reichenbach-Synagoge. Ich sollte wohl beten. Aber was? Ebenso wie die anderen Typen in meinem Alter verstehe ich die althebräischen und aramäischen Gebete nicht. Das Einzige, was mich wirklich interessiert, ist, ob es diesen Gott gibt, zu dem unser Volk seit Jahrtausenden betet und um dessen Gebote willen es seit je unendliches Leid erdulden musste. Aber gerade danach fragt hier niemand. Wichtig ist den Alten nur, dass man regelmäßig in die Synagoge geht, koscher isst und unsere Mädchen »unberührt« lässt.
Weshalb komme ich überhaupt hierher? Was habe ichmit den Leuten hier gemein? Dass wir alle Mitglieder des Bundes mit dem Ewigen sind? Was bedeutet dieser Verein eigentlich? Die Alten hatten ihre Religion, ihre Lehren und Traditionen. Und wir? Was bleibt uns? Der »Bund« ist jetzt zur Gemeinschaft der Beschnittenen degradiert. Das deutsche Judentum ist sozusagen auf den Schwanz gekommen. Der Bund mit dem Ewigen besteht nur noch aus einer langen Kette geopferter Vorhäute. Und was habe ich von diesen Opfern? Einen sensibilisierten Schwanz, sonst nichts. Vielleicht denke ich deshalb den ganzen Tag an nichts als an meinen Schmock. Das tun die anderen Kerle in meiner Klasse auch. Und trotzdem bin ich anders. Alleine weil mir die Vorhaut
Weitere Kostenlose Bücher