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Ruchlos

Ruchlos

Titel: Ruchlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Baum
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schon, seitdem ich das zweite Mal bei Andy in der Klinik gewesen war, verrückt. Ich hatte grauenhaften Hunger – über den ganzen Ereignissen hatte ich das Essen komplett vergessen, und als ich Frau Wachowiak in der Küche mit Tellern klappern hörte, wurde mir bewusst, dass es schon Zeit für das Abendessen war. Ich hatte den Tisch nicht abbestellt, fiel mir ein.
    »Sehen Sie, hier!« Der ältere Herr hielt mir ein Blatt hin, auf dem in sauberer Handschrift mit vereinzelten altdeutschen Elementen wie einem ›z‹ mit lang nach unten gezogenem Schnörkel etwas über den ›Sturmtrupp Dynamo‹ stand. » Damit hat mein Vater sich beschäftigt.«
    »Danke«, sagte ich mehr zu seiner Frau als zu ihm und stürzte einen großen Schluck Wasser hinunter. »Gab es einen Hinweis darauf, von wann die Notizen sind?«
    Ich hätte die Unterlagen gerne selbst durchgeschaut. Schließlich war es wichtig, wo, in welchem Ordner oder Stapel die Papiere aufgetaucht waren. Herr Wachowiak konnte oder wollte mir dazu nichts sagen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mir lediglich etwas gegeben hatte, damit ich nicht nach seiner Familie fragte. Natürlich war dieser ›Sturmtrupp‹ etwas, womit ich mich journalistisch beschäftigen würde – erst recht nach dem Angriff auf Andreas –, es war auch gut vorstellbar, dass Wachowiak senior uns darauf hatte aufmerksam machen wollen, dennoch:
    »Warum wollten Sie nicht, dass ich mich mit Marianne Gärtner unterhalte?«
    Ich beobachtete ihn scharf. Sein linkes Auge zuckte, die ganze Haltung drückte Widerwillen aus.
    »Sie können sich gern mit Frau Gärtner unterhalten«, sagte er.
    »Sie haben die Beziehung Ihres Vaters zu ihr nicht gebilligt«, erwiderte ich und machte keinen Versuch, es wie eine Frage klingen zu lassen.
    »›Nicht gebilligt‹ … Mein Vater war ein erwachsener Mann. Meinen Sie etwa, er habe auf seine Kinder gehört?«
    Das war wenigstens eine angedeutete Bestätigung.
    »Sie hat ihn nur ausgenutzt, die feine Dame«, schob er nach. »Ließ sich gern bedienen.«
    Ich dachte an die Frau, wie sie am Nachmittag mühevoll den Weg zurück in ihre Wohnung bewältigt hatte, und wollte etwas einwenden. In diesem Moment kam jedoch Frau Wachowiak durch die Flügeltür zurück.
    »Seid ihr so weit?«, fragte sie ihren Mann.
    Er nickte, ich bedankte mich nochmals für die Aufzeichnungen und saß kurz darauf wieder im Auto, ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken. Ich war völlig erschöpft.
    *
    Sie trugen Springerstiefel und Uniformjacken, hatten geschorene Schädel und einen irren Blick. In geschlossener Formation kamen sie auf mich zu, langsam und humpelnd. Ich wollte fliehen, konnte mich aber nicht von der Stelle bewegen, meine Füße schienen mit dem Boden verschmolzen. Der Versuch, um Hilfe zu rufen, erstarb in einem Krächzen. Wenigstens das wurde lauter mit jedem neuen Ansatz. Vielleicht hörte es jemand. Irgendjemand musste doch da sein. Außer diesen seltsamen, versehrten Rambos.
    Ich erwachte von meinen eigenen halb erstickten Geräuschen, nass geschwitzt und zitternd. Langsam zog ich einen Arm unter der Steppdecke hervor, strich über das Kopfkissen neben mir, schluckte. Ich fühlte mich sehr allein. Der Digitalwecker zeigte 5.32 Uhr. Am Vorabend war ich nach einem Zwischenstopp bei Öz’ Imbiss an der Schauburg, wo ich einen Döner hinuntergeschlungen hatte, geradewegs ins Bett getaumelt und eingeschlafen. Nun war ich hellwach.
    Eine Zeit lang drehte ich mich noch von einer Seite auf die andere, dann stand ich auf und versuchte, unter der Dusche endlich die Stimmung des Traums loszuwerden. Als ich mich zu einem opulenten Frühstück niederließ, waren die Bilder verschwunden. Wundersamerweise plagte mich auch keine Übelkeit, sondern ich konnte in Ruhe genießen. Sämtliche Radiosender brachten eine Art Beruhigungsprogramm für Schlafgestörte – logisch am Sonntagmorgen um halb sieben. Ich ging ins Wohnzimmer und legte eine alte CD von Tori Amos auf.
    ›Why do we crucify ourselves?‹, fragte die rätselhafte, schöne Stimme und suchte nach einem Erlöser. Ich nahm Heinz Wachowiaks Notizen über den ›Sturmtrupp Dynamo‹ zur Hand. Dass sie von dem alten Herrn stammten, daran zweifelte ich nicht. Zwar hatte ich nie etwas Schriftliches von ihm gesehen, die ganze Struktur der Aufzeichnungen entsprach aber der etwas umständlichen, ausholenden Art, die ich in Erinnerung hatte. Da ging es zuerst um die große Geschichte des Traditionsvereins 1. FC Dynamo Dresden,

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