Ruchlos
Ohne die Artikel zu sichten, schob ich sie zu den anderen auf den Stick und ging in den ersten Stock in die Redaktion.
Natürlich war um halb neun noch niemand da. Ich zögerte kurz, ob ich mich an meinen, von Jonas Michaelis okkupierten Platz setzen oder in Andreas’ Büro ausweichen sollte, entschied mich dann für den eigenen Schreibtisch.
Hier war alles perfekt aufgeräumt. Keine losen Schmierblätter, die Stifte steckten in dem dafür vorgesehenen Becher, sogar die Büroklammern, die bei mir immer über die ganze Arbeitsfläche verteilt lagen, waren verschwunden. Ich blickte mich um, ob ich irgendetwas fand, womit ich ein wenig Chaos verursachen konnte, und wurde auf Martins Schreibtisch fündig. Da er drei Wochen im Urlaub gewesen war, türmte sich auf seinem Platz nicht nur speziell an ihn gerichtete Post, sondern auch alles mögliche andere, wofür niemand Verwendung gehabt hatte. Ich deponierte eine bunte Mischung an Pressemitteilungen auf dem Tisch, legte ein Werbe-Präsent in Form eines kitschigen Taschenspiegels darauf. Dann setzte ich mich und schaltete den Computer ein.
Zuerst schickte ich die Texte über den Nazi-Fanclub zum Drucker, dann las ich Andys Fotos ein, vergrößerte die Nahaufnahme so weit wie möglich. Das Emblem auf dem Aufnäher blieb trotzdem unleserlich.
Bevor ich mich mit dem Artikel beschäftigte, schaute ich auf dem an der Wand hängenden Plan nach, wer außer Andreas für den Wochenenddienst eingetragen war, und seufzte erleichtert auf, als ich Christinas Namen las. Ich bereitete das Layout für die erste Seite vor, stellte die Fotos und einen Text – beides ohne Namensnennung – ein und suchte ein paar Meldungen zusammen, um ihr die Arbeit zu erleichtern.
Dann rief ich bei der alten Dame in Heidenau an, entschuldigte mich für die Störung und erklärte, woher ich ihre Nummer hatte. Sie klang sehr reserviert. Erst als ich ihr zusicherte, dass ich ohne ihre Einwilligung nichts in die Zeitung bringen würde, stimmte sie einem Treffen am Nachmittag zu.
Der Dresdner Herr war zugänglicher. Gerne könne ich ihn besuchen, wann immer ich wolle. Ich fragte, ob es ihm schon in 20 Minuten recht sei, und er stimmte zu.
Ich staunte, als mir der etwa 80-jährige Mann quer durch den herrlichen, gepflegten Vorgarten der Blasewitzer Villa entgegenkam. Langsam, aber ohne Stock und ohne zu humpeln.
»Paul Dürichen«, stellte er sich vor. »Sie müssen Frau Bertram sein. Wenn Sie mögen, setzen wir uns hinten auf die Terrasse. Dort scheint jetzt die Sonne und es ist so ein wunderbarer Tag.«
Wir umrundeten das Gebäude und fanden uns in einem wahren Blumenparadies wieder. Ein ganzes Beet voller Dahlien in rot und gelb leuchtete verschwenderisch, umringt von Chrysanthemen, Astern und etlichen anderen Pflanzen, deren Namen ich nicht kannte. In dem Jahr, in dem ich mit Dale zusammen in seinem Haus lebte, hatte ich mit viel Enthusiasmus und wenig Sachkenntnis versucht, aus der Wildnis einen Garten zu machen. Die Ergebnisse waren eher enttäuschend gewesen. Dale ging sehr pragmatisch daran: Er mähte den Rasen und hielt Sträucher und alles, was sonst so wuchs, mit der Heckenschere halbwegs im Zaum. Ich konnte mir vorstellen, wie viel Arbeit eine Pracht wie diese machte.
»Mein ganzer Stolz«, strahlte Herr Dürichen. »Die Kunst ist, einen Garten so anzulegen, dass er von März bis Oktober blüht. Oder noch länger. Es gibt dann ja auch den Winterjasmin oder den Ritterstern.« Seine hellen, blauen Augen sahen mich aufmerksam an. »Aber ich will Sie nicht langweilen. Setzen Sie sich doch.« Er wies auf eine Sitzgruppe am Haus, auf die die warme Herbstsonne fiel.
»Und Sie kümmern sich selbst um das alles?« Mein Blick schweifte über die riesige Fläche. Hinten, an der Grundstücksgrenze, standen alte, hohe Bäume.
»Nicht ganz. Ein junger Mann hilft mir ein wenig beim Rasenmähen und wenn etwas ansteht, was Kraft erfordert. Die habe ich einfach nicht mehr, die Kraft.« Er hatte sich mir gegenüber niedergelassen, auch diese Bewegung wieder langsam, aber ohne erkennbare Schmerzen.
»Frau Gärtner sagte, Sie hätten die gleichen Beeinträchtigungen mit Ihrem künstlichen Gelenk wie sie?« Ich war zu neugierig, um weiter Smalltalk zu betreiben.
Herr Dürichen strich sich gedankenverloren über das rechte Knie. »Nein, das haben Sie falsch verstanden. Ich gehe davon aus, dass es bei mir ein günstiges Gelenk getan hätte.« Er lächelte.
»Das verstehe ich nicht.«
»Mir ist in diesem
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