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Rückgrad

Rückgrad

Titel: Rückgrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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denn …» Ich kam nicht dazu, meinen Satz zu beenden, denn außerstande, dem Druck standzuhalten, wurde ich von der ersten Reihe umgeworfen und kippte quer über Max.
    Ich stieß einen fürchterlichen Schrei aus.
    Trotz des Getümmels, das sich über meinem Kopf abspielte, gelang es mir, mich auf allen vieren von ihm zu lösen. Die Leute schoben einander und riefen denen im Hintergrund zu, sie sollten aufhören zu schieben, sie seien ja verrückt. Ich hoffte, ich hatte ihm nicht weh getan. Jemand trampelte auf seine weißen Haare. Die Vorstellung, ich könnte ihn mit meinem Gewicht erdrückt haben, machte mich halb wahnsinnig. Dann lockerte sich der Schraubstock, und ich richtete mich auf, und während ich das tat, klammerte sich seine Hand an meinen Ärmel. Ich erstarrte. Er sah mich nicht an, doch seine Lippen bewegten sich, also beugte ich mich wieder zu ihm hinunter, von einer wahren Rührung ergriffen.
    - Sag ihr …. murmelte er mit so schwacher Stimme, daß ich wahrhaftig glaubte, dies seien seine letzten Worte – später bedauerte ich zuweilen, daß sie es nicht waren –, doch nichtsdestoweniger lauschte ich ihm aufmerksam.
    Einige Sekunden lang hörte ich nichts mehr, während sich um mich herum das Geschiebe beruhigte, und ich glaubte, er habe seinen letzten Atemzug getan. Doch er hatte sich das Beste für den Schluß aufbewahrt.
    - Sag Marianne, ich hab gebüßt …. fügte er mit letzter Kraft hinzu, bevor er entschlief.
    Ich mußte seine Finger einzeln lösen, um mich zu befreien. Aber ich vermied es peinlich, ihn anzuschauen. Ich stand mühsam auf und stellte fest, daß ich meine Mütze verloren hatte. Für einen Moment war ich wie vor den Kopf geschlagen, dann spaltete ich die Menge.
     
    Ich behielt das einige Tage für mich, dann erzählte ich auf dem Umweg eines Gesprächs, das wir über sein nächstes Theaterstück führten, Hermann davon. Es drehte sich um das Stück eines jungen Autors, den Marianne unter ihre Fittiche genommen hatte, aber ausnahmsweise stimmte ich ihr da zu, ich schätzte, daß der Typ in einigen Jahren wirklich gut sein würde. Ich kannte ihn ein wenig, er war zwei-, dreimal bei mir zu Hause vorbeigekommen, und ich hatte ihm gesagt, was ich von seinem Werk hielt. Hermann für sein Teil war mit seiner Rolle außerordentlich zufrieden, immer wieder erzählte er mir davon und das mit einer solchen Begeisterung, daß ich ihn schließlich ernstgenommen hatte.
    Am frühen Abend war ein heftiges Gewitter losgebrochen, es hatte in Strömen gegossen, und wir waren allein, Elsie und Gladys hatte es plötzlich nach einem Schaufensterbummel gelüstet. Wir quatschten miteinander, während er sich rasierte und ich mit einer Monte Christo Especial in meiner Wanne untergetaucht war. Der Regen hatte aufgehört. Der Himmel war malvenfarben mit breiten lachsrosa Einschnitten, und ich blies meinen Rauch durchs Fenster. Ich wartete, bis er das Rasiermesser von seiner Kehle entfernt hatte, ehe ich ihm die Neuigkeit verkündete.
    Zum guten Schluß kamen wir überein, mit niemandem darüber zu reden. Das war nur Marianne gegenüber ein Problem. Hermann schüttelte den Kopf, er war dafür, nichts zu sagen, es sei besser, wenn Max sein Geheimnis mit ins Grab nehme. Ich hatte während der gesamten Beerdigung darüber nachgedacht. Ich fragte mich, ob ich seinen letzten Willen erfüllen mußte, ob er mir wirklich eine so fürchterliche Last aufgebürdet hatte und ob ich vielleicht übertrieben gefühlsduslig war.
    Lag sein Seelenfrieden in meiner Hand? Konnte sein Tod für Marianne ein Trost sein? Lag die Entscheidung, was gut war und was nicht, bei uns? Lauter Fragen, die wir trotz der Milde des Abends ernsthaft erörterten, Rätsel, die ohne Lösung blieben und über die wir uns trotz der linden Luft, die auf die Gluthitze vom Vortag gefolgt war, Gedanken machten.
    Als ich sie sah, stellte ich mir die Szene vor, Max über ihr, nachdem er sie niedergeschlagen hat, und wer weiß, sagte ich mir, ob sie sich nicht am Ende eingebildet hat, ihr Täter sei ein verdammt hübscher Kerl …?! Ich erinnerte mich an das Gesicht, das er gemacht hatte, wenn er in ihrer Gesellschaft war, oder an die finstere Miene, die er aufsetzte, wenn es darum ging, sie in ihren Rollstuhl zu heben. Ich dachte an all die Entschuldigungen, die ich für ihn gefunden hatte, wenn auffiel, daß bei ihm nichts mehr lief, an den allgemeinen Irrtum, bei ihm gehe alles schief, weil man ihn vom Gymnasium gefeuert hatte. Und ich dachte an

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