Rueckkehr nach River's End
Kapitel
Washington State University, 1993
Es besteht keinerlei An l ass zur Nervosität, redete Noah sich ein, während er die Adresse des schmucken, zweigeschossigen Hauses noch einmal überprüfte. Immerhin hatte er diese Reise und die Kontaktaufnahme bereits seit langer Zeit geplant. Aber genau das war vermutlich der Grund für sein Herzklopfen. Er parkte seinen Mietwagen am Bordstein der ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße.
Schnell fuhr Noah sich zweimal mit den Fingern durchs Haar. Er hatte in Erwägung gezogen, zum Friseur zu gehen, bevor er sie besuchte, aber verdammt, immerhin hatte er Urlaub.
Mehr oder weniger.
Zwei Wochen lang weg von der Zeitung, wo sich seine Bemühungen um den großen Durchbruch als Kriminalreporter als keineswegs so leicht erwiesen hatten wie erwartet, und dem Tatsachen wie Firmenpolitik, gekürzte Artikel, Herausgeber und Werbekunden den Geschichten, die er erzählen wollte, im Weg standen.
Diese Geschichte hier wollte er jedoch auf seine Art erzählen.
Deshalb war er hergekommen. Um die Story zu schreiben, die ihm nie mehr aus dem Kopf gegangen war.
Der Mord an Julie MacBride.
Eine der Schlüsselfiguren zu dieser Story lebte im ersten Stock dieses hübschen Hauses, das in vier Apartments aufgeteilt worden war. Wie andere ringsum auch war es umgebaut worden, um die Studenten aufzunehmen, die der Campus des Colleges nicht zu beherbergen vermochte. Oder die sich eigene Wohnungen leisten konnten, dachte er. Die dazu in der Lage waren, den Preis für ihre Privatsphäre zu bezahlen. Und denen der Sinn nach eben dieser Privatsphäre stand und nicht nach der Geselligkeit und den Ablenkungen des Collegelebens.
Er hatte seine Zeit auf dem Campus der University of California genossen. Das erste Semester war zu einer vagen Erinnerung an Partys, Mädchen und weinselige philosophische Diskussionen verschwommen, aber danach hatte er sich zusammengerissen.
Er hatte sich für einen Abschluss in Journalismus entschieden, und seine Eltern wären tief enttäuscht gewesen, wenn er versagt hätte.
Diese beiden Faktoren hatten seinen Ehrgeiz gleichermaßen angespornt.
Und was, so fragte er sich nun, spornt Olivia an?
Wenn er auch nach fast drei Jahren in seinem Job hatte einsehen müssen, daß er im tiefsten Herzen kein Journalist war, so leistete er trotzdem gute Arbeit und betrieb seine Recherchen sorgfältig. Deshalb wusste er, daß Olivia MacBride als Hauptfach Ökologie studierte, daß ihr Durchschnitt bei einer glatten Eins Komma Null lag. Er hatte herausgefunden, daß sie in ihrem ersten Jahr an der Uni in einem Wohnheim auf dem Campus gelebt hatte und im darauffolgenden Herbst in ihr eigenes Apartment gezogen war.
Sie gehörte keinerlei Clubs oder Vereinigungen an, hatte zwei zusätzliche Kurse belegt und im Frühjahrssemester achtzehn Prüfungen mit Auszeichnung abgeschlossen.
Das alles verriet Noah, daß sie konzentriert arbeitete und allem Anschein nach mehr als nur ein wenig besessen war von ihrem Studium.
Aber es gab Dinge, die er in den Computern und Kopien ihrer Studienunterlagen nicht nachlesen konnte, zum Beispiel ihre Wünsche und Hoffnungen.
Und ihre Gefühle ihren Eltern gegenüber.
Um dies zu erfahren, musste er sie näher kennenlernen. Um das Buch zu schreiben, das in seinem Herzen und in seinem Kopf reifte, musste er sich in ihre Gedanken hineinversetzen.
Die beiden Bilder, die er in seiner Erinnerung am deutlichsten vor sich sah, waren das verweinte Gesicht des Kindes und die ernsten Augen des jungen Mädchens.
Er stieg die Treppe hinauf, entdeckte das kleine Schild, das Apartment 2B kennzeichnete. Kein Name, dachte er, nur eine Nummer. Die MacBrides schützten ihre Privatsphäre wie das letzte Goldstück in einem leeren Tresor.
»Auf in den Kampf«, murmelte er, während er auf die Klingel drückte.
Er hatte sich ein paar Strategien zurechtgelegt, hielt es jedoch für angeraten, flexibel zu bleiben, bis er das Terrain ausreichend erkundet hatte.
Dann öffnete Olivia die Tür, und plötzlich war jeder Plan, jede praktische Erwägung aus Noahs Gedächtnis verschwunden wie Wasser, das langsam und unaufhaltsam aus einer Schale floß.
Sie war nicht schön, zumindest nicht verglichen mit den atemberaubenden Bildern von ihrer Mutter, aber es war fast unmöglich, auf etwas anderes zu achten, wenn man in ihre Augen sah, die ihn sanft und goldbraun anblickten.
Sie war groß und schlank, und ihre Figur war ausgesprochen durchtrainiert, was überraschenderweise
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