Rueckkehr nach River's End
Geschworener aufzuspielen, ihm ging es allein um Fakten.
Doch die Hand, die immer wieder mit der Schere auf Julie MacBride eingestochen hatte, gehörte einem Ungeheuer. Er hatte nicht vor, das zu vergessen.
Er konnte das Verbrechen objektiv recherchieren, er konnte sich von dem Grauen distanzieren. Das war seine Aufgabe. Er konnte sich hinsetzen und Sam Tanner zuhören, mit ihm sprechen, sich mit seinen Gedankengängen vertraut machen und alles zu Papier bringen. Er konnte den Mann analysieren und die Veränderungen festhalten, die während der letzten zwanzig Jahre in ihm stattgefunden oder nicht stattgefunden hatten.
Aber er würde nie vergessen, daß Sam Tanner in jener Sommernacht kein Mensch gewesen war.
Er wollte gerade nach Einträgen über Julie MacBride suchen, als er spontan >River's End Lodge and Campground<
eintippte. Als die Homepage auf dem Bildschirm erschien, lehnte er sich zurück und nippte an seinem Kaffee.
Er sah eine geschmackvolle, ansprechende Aufnahme vom Gästehaus, genau, wie er es in Erinnerung hatte. Ein paar Fotos vom Interieur zeigten die Lobby und eine der Gästesuiten. Eine in lockerem Ton gehaltene Beschreibung ging auf die Geschichte des Hauses ein, die Zimmer, die Schönheit des Nationalparks.
Ein weiterer Mausklick führte ihn zum Freizeitangebot - Angeln, Kanufahren, Wandern, ein Naturschutzzentrum...
Er hielt inne und grinste. Sie hatte es also geschafft, ihr Zentrum einzurichten. Gut gemacht, Liv.
Außerdem gab es Führungen, einen beheizten Swimmingpool, ein Fitneßcenter.
Er suchte weiter, stellte fest, daß Wochenend-, Wochen- und Spezialpakete angeboten wurden. Als Besitzer waren Rob und Val MacBride eingetragen.
Olivias Namen konnte er nirgendwo entdecken.
Bist du noch dort, Liv? fragte er sich. Ja, du bist noch dort, in deinem Wald und bei den Flüssen. Denkst du manchmal an mich?
Argerlich, daß ihm diese Frage in den Kopf gekommen war, stand er vom Schreibtisch auf, ging zum Fenster und betrachtete die Stadt, die Lichter und den Verkehr tief unter sich.
Was wohl aus seinem alten Rucksack geworden war? Er drehte sich um, schaltete den Fernseher ein, um eine Geräuschkulisse zu haben. Es gab Zeiten, in denen er nicht nachdenken konnte, wenn es still war.
Dann griff er nach seinem Notizbuch, ließ sich aufs Bett fallen und stellte eine Liste von Namen und Fragen auf.
Jamie Melbourne
David Melbourne
Rob und Val MacBride
Frank Brady
Charles Brighton Smith
Vertreter der Anklage? Wer lebt noch?
Lucas Manning
Lydia Loring
Agenten, Manager, Publizisten?
Rosa Sanchez (Haushälteriri)
andere Hausangestellte?
Ganz unten auf der Liste notierte er >OHvia MacBride*.
Er wollte mehr von ihr erfahren als nur ihre Erinnerungen an jene schreckliche Nacht. Ihn interessierte, was sie noch aus der Zeit wusste , als ihre Eltern zusammenlebten. Die Atmosphäre im Haus, ihre Eheprobleme.
Immerhin gab es verschiedene Blickwinkel. Hatte Julie eine Affäre mit Lucas Manning gehabt - war die Eifersucht ihres Mannes berechtigt?
Hatte sie ihrer Schwester davon erzählt? Hatte ihre Tochter etwas gespürt? Das Personal?
Und war es nicht interessant, daß Tanner seine Tochter nicht erwähnte, als er aufzählte, was er alles vermisste ?
Olivia konnte sogar der Schlüssel zu der Geschichte sein, mutmaßte Noah und malte einen Kreis um ihren Namen. Und diesmal würde er sich nicht durch seine Gefühle, ihre Anziehungskraft oder ihre Freundschaft ablenken lassen.
Inzwischen waren beide älter geworden. Wenn sie sich wiedersahen, würde sich alles in erster Linie um das Buch drehen.
Und doch fragte er sich unwillkürlich, ob sie ihr Haar immer noch zu einem Pferdeschwanz zusammenband, ob sie immer noch kurz zögerte, bevor sie lächelte.
»Jetzt reicht es langsam, Brady«, murmelte er. »Das ist Vergangenheit.«
Er richtete sich auf und durchforstete seinen Aktenkoffer nach den Nummern, die er noch in L. A. herausgesucht hatte. Regen tropfte gegen die Fenster, als er den Anruf tätigte. Aus seinem ursprünglichen Plan, auszugehen und das Nachtleben von San Francisco zu genießen, würde wohl ein Bier in der Hotelbar werden.
»Constellations, guten Tag.«
»Noah Brady. Ich möchte Jamie Melbourne sprechen.«
»Mrs. Melbourne ist gerade in einer Besprechung mit einem Kunden. Darf ich ihr etwas ausrichten?«
»Sagen Sie ihr, daß ich Frank Bradys Sohn bin und mich mit ihr unterhalten möchte. Im Augenblick bin ich allerdings nicht in der Stadt.« Er sah auf das Telefon.
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