Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Besserung. Am nächsten Tag schickte er mir meine Armbanduhr und meinen Pass zurück.
Aus fachlicher Sicht waren das keine besonders anregenden Fälle. Ich war dazu ausgebildet worden, kognitiven Defekten auf den Grund zu gehen und die Ordnung im Leben der Betroffenen wiederherzustellen, doch jetzt war ich kaum mehr als ein Briefkastenonkel für Wohlhabende. Nach den Mühen, die mich der Aufbau einer eigenen Praxis gekostet hatte, war die Verwirklichung meiner Pläne relativ unbefriedigend. Doch dafür gab es einen finanziellen Ausgleich, der in Zeit messbar war: Zeit, um weniger glamouröse, aber lohnendere Fälle zu übernehmen, und Zeit für Besuche in Witching. Regelmäßig flog ich nach Hause, um eine Woche lang mit Dad zu fischen und zu wandern, der nach seiner frühzeitigen Pensionierung aus Gesundheitsgründen angefangen hatte, sein Haus in eine Einmann-Ruhmeshalle zu verwandeln. Am Fuß der Treppe, wo mich seit Jahren ein Schulfoto in einer sauber gebügelten Uniform und einem gezwungenen Lächeln gefangen hielt, fanden sich neue Ausstellungsstücke: ein für Dad signiertes Exemplar von Patsys erster LP , eine ausgeschnittene Annonce für die Lakelands-Praxis, ein jüngeres Schwarzweißbild von mir an meinem Schreibtisch, eine Vergrößerung aus dem Bericht im Midwest Mind Monthly über den Drehbuchautor mit Hund (der sich letztlich als Ersatz einen Labrador mit dem verheißungsvollen Namen Orson Welles zulegte, aber nie wieder ganz zu seiner alten Form zurückfand). Unschuldig hing der zahnlückige Bengel neben dem untersetzteren, beruflich erfolgreichen Peter von heute. Ein Stück weiter vorn im Gang halluzinierte ich eine Fortsetzung der Serie: ich mit einem schüchternen, wimmernden Kind unter jedem Arm, ich als Empfänger der Ehrendoktorwürde von Harvard, ich und Richard zufrieden lächelnd beim Dreh zu unserer gemeinsamen Fernsehsendung.
Doch wenn sich nach den ersten amüsierten Äußerungen über die Veränderung meines Akzents und die kulturellen Unterschiede, auf die ich gestoßen war, der elterliche Scheinwerfer sanft auf mein Leben richtete, wurde ich zum verlegenen Adressaten der stillen, bohrenden Fragen, die ich selbst gewohnheitsmäßig häufig an andere stellte. Bist du glücklich in deiner Arbeit? Wie sieht es mit allem anderen aus? Wie ist das häusliche Leben? Und unerbittlich kam dabei jedes Mal der Hauptmangel meiner Existenz zum Vorschein: Ich war einsam.
»Ich arbeite oft bis weit in den Abend, wisst ihr, da bleibt einfach keine Zeit, um … Leute kennenzulernen«, schwadronierte ich.« Oder: »Alles eine Frage der Prioritäten.« Oder: »Es hat schon ein oder zwei Frauen gegeben …« Wenn meine Eltern einen skeptischen Blick wechselten, rettete ich mich mit einem Trick, der später als umgekehrte Psychologie bekannt wurde. »Richard hat natürlich haufenweise Freundinnen in New York.«
»Das denke ich mir«, entgegnete Mum, und ich durfte mich im Vergleich zu ihm rechtschaffen fühlen.
Doch wenn ich wieder in meiner Wohnung in Chicago war, ließ mir das Problem – plötzlich war es ein Problem – keine Ruhe. Es zu ignorieren war genauso unmöglich wie der Versuch, in meinem jetzigen (schon fortgeschrittenen) Alter zu verharren. Meine Kollegen am Lakelands Institute hatten Familie oder widmeten sich ganz der Aufgabe, eine zu gründen. Die beruflichen Freundschaften, die ich in meinen Zwanzigern geschlossen hatte, verkümmerten zu sporadischen, pausenlastigen Telefongesprächen, dann zu seltenen Einladungen zu Dinnerpartys unter weit entfernten Adressen und schließlich zu Weihnachtskarten mit einem Jahresrückblick voller Namen mit wachsender Bedeutung: langjährige Freundinnen, die zu Ehefrauen wurden, Babys im Schnelldurchlauf zur Highschool. Nur mit einer sehr kleinen Gruppe Menschen unterhielt ich eine nennenswerte Verbindung; die anderen waren zu nostalgischen Nebelgestalten verblasst, die den nächsten Wechsel des Adressbuchs vielleicht nicht mehr überstehen würden. Wenn ich noch weiter zurückging, war ich in der Biografie meiner Schulfreunde kaum noch einen Stichpunkt wert, ebenso wie sie in meiner. Die einzige Ausnahme war Richard Aloisi, und seine Zeit dehnte sich wie ein riesiges Zelt über einer Unmenge von Interessenten. Selbst die Stimme auf seinem neuen Anrufbeantworter klang zerstreut, als hätte ihn ein Double vertreten. Nachdem ich mich abgestrampelt hatte, um mich auf der Karriereleiter irgendwo in der Nähe von Richard zu halten und damit den Anspruch
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